Am Freitag und Samstag, den 12. und 13. November 2010 fand der Netzpolitische Kongress „Gesellschaft digital gestalten“ der Grünen Bundestagsfraktion in Berlin statt. An dieser Stelle möchten wir uns schon einmal herzlich bei den ca. 600 Teilnehmerinnen und Teilnehmern bedanken, die zum Erfolg dieser ersten netzpolitischen Veranstaltung im Deutschen Bundestag erheblich beigetragen haben.

Hier nun ein – sicherlich leicht subjektiver – Rückblick. Ab sofort ist zudem auch ein kurzes zusammenfassendes Video zum Kongress online:

Außerdem haben wir unsere Presse- und Blogschau erweitert und auch um Radiobeiträge und Fotosammlungen ergänzt. Über weitere Hinweise freuen wir uns. Bei Twitter gibt es aktuell auch noch die Übersicht der Tweets mit dem Kongress-Hashtag #nk10. Nach und nach stellen wir nun außerdem die gespeicherten Livestream-Aufnahmen online.

Im Mittelpunkt des Kongresses mit integriertem Barcamp standen der freie und gleichberechtigte Zugang zum Internet, die Wahrung der Menschen- und Bürgerrechte, neue Ideen für Daten- und Verbraucherschutz, konsequente Green IT, offene Geschäftsmodelle im Netz und eine Informationsfreiheit 2.0 durch Open Data und Open Government.

Konstantin v. Notz eröffnet den Kongress

Konstantin von Notz eröffnete den Kongress, begrüßte alle anwesenden Teilnehmerinnen und Teilnehmer und ließ die vergangene Bundestags-Woche mit ihren zahlreichen netzpolitischen Aktivitäten Revue passieren. Seine These: Netzpolitik ist im Bundestag angekommen. Die Grünen haben erkannt, dass sich die drängenden netzpolitischen Fragestellungen nur im Dialog mit allen Beteiligten beantworten lassen. Hierum sei man bemüht, unter anderem diene dazu auch der Kongress. Man gehe hier für eine Bundestagsfraktion innovative Wege und wolle auch in Zukunft mehr Beteiligungsmöglichkeiten schaffen. Netzpolitik sei vor allem eins: Bürgerrechtspolitik.

Renate Künast: Die Politik muss die Chancen des Netzes nutzen!

In ihrer Eröffnungsrede machte Renate Künast darauf aufmerksam, dass On- und Offlinewelt längst miteinander verwoben und nicht mehr zu trennen seien. Die Grünen würden die Netzpolitik daher nicht denjenigen überlassen, die stets nur die Risiken des Netzes betonten, das Internet lediglich als anrüchige „digitale Hafenkneipe“ ansähen und es aus diesem Grund in seiner Freiheit beschneiden würden. Die Politik müsse stattdessen die Chancen, die sich uns böten, verstärkt nutzen und sich weiter öffnen – nicht nur durch die Schaffung von mehr Transparenz sondern auch durch die Schaffung einer verstärkten Bürgerbeteiligung mit Hilfe des Netzes. Die Grünen würden hier eine Vorreiterrolle einnehmen, die man weiter ausbauen wolle.

Grüne Leitlinien für die Netzpolitik

In ihrer Rede markierte Renate Künast die Leitlinien grüner Netzpolitik. Dazu gehören fairer Zugang, Barrierefreiheit, Netzneutralität, eine Informationsfreiheit 2.0 und ein ökonomisch vielfältiges Netz ohne Monopole. Netzsperren und Vorratsdatenspeicherung, so Künast, seien hingegen nichts anderes als eine Kapitulation vor den Herausforderungen der Strafverfolgung im Internetzeitalter. Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen müsse mit einer (internationalen) Gesamtstrategie bekämpft werden, nicht mit nutzlosen Websperren.

Verbraucherinnen und Verbraucher hätten ein Recht auf den Schutz ihrer Privatsphäre im Internet. Der europäische Datenschutz muss den Bedingungen des 21. Jahrhunderts angepasst werden und auch für internationale Unternehmen gelten. Datenschutz sei auf dem Weg ein wichtiger Wirtschaftsfaktor zu werden, der durch die Etablierung eines Gütesiegels noch ausgebaut werden müsse.

Das grüne Urheberrecht stünde für einen ausgewogenen Interessenausgleich zwischen Kreativen und Nutzerinnen und Nutzern. Pauschalvergütungsmodelle wie die Kulturflatrate sei ein Baustein für das Urheberrecht in einer vernetzten Welt.

Internetpolitik und Urheberrechtsreform über den Nationalstaat hinaus

Die New Yorker Soziologin Saskia Sassen zeigte in ihrem Vortrag die Möglichkeiten einer Politik jenseits des Nationalstaats auf, die sich zivilgesellschaftlichen Akteuren und digitalem Aktivismus durch das Internet immer wieder öffne. Reto Hilty, Direktor und Urheberrechtsexperte am Münchner Max-Planck-Institut für Geistiges Eigentum, plädierte anschließend nachdrücklich für eine am angloamerikanischen Copyright orientierte, international ausgerichtete Reform des bestehenden Urheberrechts. Das veraltete kontinentaleuropäische Urheberrechts-Modell, so Hilty, dürfe der Nutzung des Internets als „schöner neuer Technologie“ nicht im Weg stehen. In der sich anschließenden Podiumsdiskussion „Für ein neues Urheberrecht“ mit Malte Spitz, Jeanette Hofmann, der Kulturmanagerin Christine Fuchs und dem Hamburger Justizsenator Till Steffen waren sich die Teilnehmenden einig: Die Rechte von Urheberinnen und Urhebern aber auch der Nutzerinnen und Nutzern müssten zugleich gestärkt werden.

Mit einem lockeren Gespräch zwischen der Parteivorsitzenden Claudia Roth und dem Musikmanager Tim Renner über alte Mixtapes, neue Bands und die Chancen der Musik im Netz klang der erste Tag des Kongresses aus.

Grüner gründen: offen, sozial, nachhaltig, ökologisch

Markus Beckedahl von netzpolitik.org, zeigt mit seiner Präsentation eindrucksvoll, wie freie Software und Creative Commons-Lizenzen in der Lage sind, erfolgreiche offene Geschäftsmodelle hervorzubringen. Nachhaltig, sozial und ökologisch funktioniert auch die Suchmaschine ecosia.org, deren Gewinne als Spenden an den WWF ausgeschüttet werden. Ecosia-Gründer Christian Kroll warnte in seinem Beitrag vor einer Aufgabe der Netzneutralität und einer Priorisierung von Datenübertragung gegen Aufpreis. Gäbe es keine neutrale Datenübermittlung im Internet mehr, würden die Suchanfragen an ecosia dreimal langsamer bearbeitet werden, als dies bei Marktführern mit großen Finanzreserven der Fall sei.

Gegen Vorratsdatenspeicherung, für die Bürgerrechte

Der Bundesbeauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit, Peter Schaar, hielt ein engagiertes Plädoyer für eine Reform des Datenschutzes, bekam aber auch viel Widerspruch zu seinem Kompromissvorschlag einer „kleinen“ 14-tägigen anlasslosen Vorratsdatenspeicherung aller Kommunikationsdaten. Aus den Reihen des Publikums wurde sowohl der Kurswechsel des Bundesdatenschutzbeauftragten als solcher, als auch der gewählte Zeitpunkt scharf kritisiert. Konstantin von Notz richtete die Frage an Peter Schaar, ob es nicht die Gefahr eine „Dammbruchs“ sähe und stellte, wie auch Renate Künast in ihrer Rede  klar, dass die grüne Position in Sachen Vorratsdatenspeicherung unverändert bleibe. Die Grünen halten an ihrer Ablehnung einer anlasslosen Vorratsdatenspeicherung, die unser Gemeinwesen in seinen Grundfesten beschädigt, fest.

„Braucht das Grundgesetz ein Update?“ – diese Frage beantwortete anschließend Susanne Baer, Professorin für Öffentliches Recht und Geschlechterstudien an der Humboldt-Universität und Bundesverfassungsrichterin in spe, in ihrem Vortrag eindrucksvoll. Die komplette Rede kann hier noch einmal nachgeschaut werden.

Baers Befund war eindeutig: Die Verfassung ist fit für das Internet, aber Training schadet nie. Die Juristin rückte all jene in den Vordergrund, die nicht selbstverständlich am Internet teilhaben können. Ein Netzprekariat dürfe es weder in Deutschland, noch weltweit geben. Vor diesem Hintergrund sei ein Grundrecht auf Internetzugang erwägenswert. Ebenso sieht auch Baer den Staat als Gesetzgeber in der Pflicht, um die neutrale Datenübermittlung im Internet weiterhin zu gewährleisten.

Transparenter regieren und verwalten: Open Data und Open Government

Offene Daten sind ein kleiner Schritt für einen Hacker, aber ein großer Schritt für die Gesellschaft. Marleen Stikker, Präsidentin der Amsterdamer waag society, entwickelte in ihrem Vortrag Leitlinien für das Design öffentlicher Internetangebote. Sie erinnerte daran, dass die Daten von uns selbst, dem Volk, stammen. Maßstab der Gestaltung müssen die Bedürfnisse der User und privacy by design sein. Dabei muss deren Privatsphäre hundertprozentig gewahrt bleiben, schloss Kurt Opsahl, Anwalt bei der Electronic Frontier Foundation in San Francisco an Stikker an. Dies müsse nicht nur für Open Government-Plattformen selbstverständlich sein, denn „Privatsphäre ist ein universelles Menschenrecht, das auch online garantiert werden muss“.

Offenheit und Teilhabe sind Bedingung für Demokratie online

Annette Mühlberg, eGovernment-Expertin bei ver.di, bestand in der abschließenden Podiumsdiskussion auch auf der analogen Interaktion als Grundlage von Bürgerhaushalten und transparenter Verwaltung. Der Fraktionsvorsitzende Jürgen Trittin erinnerte daran, dass im Falle des deutschen Umweltinformationsgesetzes die Veröffentlichung der Daten bereits gesetzlich verpflichtend sei. Über die Tradition des preußischen Amtsgeheimnisses muss im Internetzeitalter hinweggegangen werden.

Einen netzpolitischen Diskurs jenseits der Sicherheitspolitik wagen

Für die rege Beteiligung, den gelungenen Austausch und die vielfachen Anregungen während des Kongresses sind wir sehr dankbar. Die grüne Bundestagsfraktion wird den Dialog um die Netzpolitik weiter in aller Offenheit fortführen. Wir werden dazu verstärkt auf partizipatorische Beteiligungsformen setzen, vom online zur Konsultation gestellten Gesetzesentwurf bis hin zum selbstorganisierten und basisdemokratischen Barcamp. Der Kongress hat das netzpolitische Labor eröffnet. Jetzt liegt es an uns allen, Gesellschaft gemeinsam digital zu gestalten.

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