Reinhard Bütikofer wurde im Juni 2009 für die Legislaturperiode 2009-2014 zum Mitglied des Europaparlaments gewählt. Er ist Sprecher der Europagruppe Grüne sowie Stellvertretender Fraktionsvorsitzender und Schatzmeister der Fraktion Grüne/EFA. Er ist Mitglied des Ausschusses für Industrie, Forschung und Energie (ITRE), stellvertretendes Mitglied des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten (AFET), Mitglied des Unterausschuss für Sicherheit und Verteidigung (SEDE) und dort grüner Koordinator. Er ist zudem Mitglied der USA- und stellvertretendes Mitglied der China-Delegation des Europäischen Parlaments. In diesen Eigenschaften beschäftigt sich Reinhard Bütikofer im Europäischen Parlament auch mit der Kontrolle des Exports sogenannter Dual Use-Güter. In der aktuellen Ausgabe der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ (12/2011, Seite 9-12) hat er gerade einen Aufsatz hierzu verfasst, den wir an dieser Stelle dokumentieren.

von Reinhard Bütikofer

Soziale Netzwerke, Mobiltelefone und das Internet spielen in den Demokratiebewegungen des 21. Jahrhunderts eine zentrale Rolle. Das zeigten die Massenproteste im Iran ebenso wie die arabische Rebellion. Hillary Clinton bezeichnete diese Technologien gar als „freedom technologies“: In ihrer Verbreitung sieht sie eine menschenrechtsorientierte Außenpolitik.[1]

Doch mit der Ausbreitung der neuen Kommunikationstechnologien wächst in vielen Staaten zugleich die Nachfrage nach entsprechender Überwachungstechnik. Dass bei deren Export menschenrechtliche Erwägungen bisher kaum eine Rolle spielen, zeigen die geplanten Regelungen der Europäischen Union zum Export von Gütern mit doppeltem, das heißt zivil-militärischem, Verwendungszweck (Dual Use).

Auf den ersten Blick scheinen viele dieser Güter harmlos. Doch schon wenige Beispiele zeigen die Brisanz, die etwa hinter harmlosen Telefonanlagen stecken kann. Denn sie lassen sich auch dazu verwenden, massenhaft Freiheits- und Bürgerrechte zu verletzen, Menschen zu inhaftieren, zu foltern und zu töten. Konkret geht es dabei um das Leben von Menschen, hinter deren Protest sich unsere Regierungschefs, Außenminister und auch die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton täglich mit starker Stimme stellen.

Das Unternehmen Nokia Siemens Networks (NSN), ein Joint Venture der deutschen Siemens AG mit dem finnischen Nokia Konzern, hatte vor der gescheiterten Protestwelle im Iran während der Jahreswende 2009/2010 ein Handy-Netzwerk samt sogenanntem Lawful Interception Gateway (LIG) und einem Monitoring Centre geliefert.[2] Mit beiden Systemen lässt sich praktisch unbegrenzt Handy- und Internetkommunikation überwachen. Während und nach dem Massenprotest war auffällig, wie gezielt, schnell und vor allem massenhaft die iranischen Sicherheitskräfte die Protestler fassen konnten. Anwälte der Inhaftierten berichteten alsbald von Handy- und Internetdaten, die die Ankläger des Regimes als Belastungsmaterial vorlegten. Einmal identifiziert, wurden viele Protestler aber auch umgehend verschleppt und ermordet. Viele der Gefangenen wurden gefoltert und ungewöhnlich viele zum Tode durch den Strang verurteilt – vermutlich nicht zuletzt zu Abschreckungszwecken.

Hier zeigt sich, welche fatalen Folgen der Export von Dual-Use-Gütern zeitigen kann. Die europäischen Unternehmen exportieren solche Überwachungssysteme mitunter in Länder, in denen es weder Demokratie noch Rechtsstaat gibt, dafür aber allmächtige Sicherheitsdienste. So lieferte die Firma Gamma Deutschland die Software Finisher an die ägyptische Staatssicherheit, die damals noch im Dienst des inzwischen gestürzten Hosni Mubarak stand. Diese Software hilft, das Internet systematisch zu überwachen und die Namen oder Identitäten anonymer Blogger herauszufinden. Journalisten des MDR haben nachgewiesen, wie mithilfe von Finisher Anti-Mubarak-Aktivisten identifiziert und verhaftet wurden. Dass Finisher sogar den Internettelefondienst Skype überwachen konnte, war den Aktivisten nicht klar. Einigen von ihnen wurde dies zum Verhängnis: Sie wurden gefoltert, andere starben in Haft. Gamma Deutschland hat an dem Export etwa 400 000 Euro verdient – das Geschäft war legal.[3]

Auch das Unternehmen Trovicor GmbH beteiligt sich an derartigen Exportgeschäften. Die Firma wirbt auf ihrer Webseite mit dem Slogan: „Die Welt zu einem sicheren Ort machen“. Weiter heißt es dort: „In der heutigen Welt erfordern Bedrohungen der persönlichen und nationalen Sicherheit schnelles Handeln. Die Lösungen müssen den rapide wachsenden Telekommunikationsmarkt und seinen sich stetig ändernden Trends und Technologien reflektieren.“ Al Khanjar, ein 39jähriger Lehrer aus Bahrain, wurde als eine solche Bedrohung der nationalen Sicherheit eingestuft, verhaftet, geschlagen und monatelang gefangen gehalten. Seine Identifizierung als Regimekritiker war möglich, weil Trovicor in Kooperation mit Nokia Siemens Networks entsprechende Technologie an die Behörden geliefert hatte.[4]

Hierzulande wird derzeit über den geplanten Export von 200 Leopard-Kampfpanzern nach Saudi-Arabien diskutiert. Das Land hatte mit seinen Panzern dem Regime in Bahrain bei der gewaltsamen Niederschlagung des Protestes geholfen. Doch sind eigentlich Leopard-Panzer effektiver bei der Niederschlagung einer Demokratiebewegung als Spionagesoftware, ebenfalls aus deutscher Produktion? Auch Güter, deren militärischer oder sicherheitspolitischer Nutzen sich dem Laien nicht auf Anhieb erschließt, können in menschenrechtlicher Hinsicht eine fatale Wirkung entfalten.

Ausweitung des EU-Exportregimes

Zu fragen ist, ob nationale und europäische Exportrichtlinien nicht die oben genannten Exporte hätten verhindern müssen. Müsste die Europäische Union, die nun viel Geld aufwendet, um die Demokratiebewegungen in Nordafrika mit einem Marshall-Plan zu stützen, nicht zuerst versuchen, Lücken bei der Kontrolle des EU-Außenhandels zu schließen?

Die Europäische Kommission wacht laut EU-Vertrag über den EU-Außenhandel. Bereits in der 90er Jahren hat sie die Bedeutung von Dual-Use-Gütern erkannt. Immerhin machen diese Güter zehn Prozent des gesamten Außenhandels der EU-Staaten aus.[5]

Im Jahr 2000 trat mit Verordnung 1334/2000 ein EU-Exportregime für Güter mit doppeltem Verwendungszweck in Kraft. Dieses sollte den Export von zehn Güterkategorien – angefangen von nuklearem Material bis hin zu Hochleistungscomputern sowie Produkten der Telekommunikation und der Luft- und Raumfahrt – regeln. Das Ziel war hier jedoch nicht in erster Linie die Kontrolle oder die gezielte Steuerung der Exportaktivitäten, sondern der möglichst ungehinderte Handel mit diesen Gütern – allerdings nur zwischen den sechs „befreundeten“ Nationen Australien, Kanada, Japan, Neuseeland, Norwegen, der Schweiz und den USA. Da es hier nur um die Vereinheitlichung und Reduzierung nationaler Exportregeln und unnötiger bürokratischer Hürden zwischen diesen, allesamt demokratischen Ländern ging, war und ist an der Präferenz für den freien Handel nichts auszusetzen.

Erst ab 2008 befasste sich die Europäische Kommission erstmals mit dem Export von sensiblen Gütern an autoritäre und nicht-demokratische Staaten und schlug eine massive Ausweitung des bis dahin bestehenden Regimes auf Länder wie China, Russland, die Vereinigten Arabischen Emirate, Malaysia usw. vor. Die Liste der Kommission umfasste auch Länder, die keinerlei Abkommen im Bereich der Nicht-Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen unterzeichnet hatten, wie etwa Israel und Indien. Hinsichtlich der Güter beschränkte sich der Kommissionsentwurf auf sechs Kategorien und variierte je nach Güterkategorie noch einmal die Liste der möglichen Importländer.

Auf Menschenrechts- und Demokratieklauseln oder strikte Kontrollmechanismen vor dem Export verzichtete die Europäische Kommission in ihrem Entwurf hingegen völlig. Entweder war sie sich der Wirkungskraft dieser Exportgüter nicht bewusst oder sie nahm das Risiko bewusst in Kauf. Fakt ist, dass der Vorschlag der Kommission exakt dem System glich, das die Mitgliedstaaten bei den sechs befreundeten Nationen anwandten, ganz so als gäbe es keine Unterschiede in der Menschenrechts- und Außenpolitik der EU gegenüber China oder den USA. Immerhin einige wenige Mitgliedstaaten sahen dies als ein Problem. So forderten etwa die Niederlande und Dänemark in der zuständigen Ratsarbeitsgruppe, systematische Vorabkontrollen einzuführen und einige besonders problematische Länder von der Liste zu streichen.

Keine Mehrheiten für Menschenrechte

Aufgrund der zähen Verhandlungen zwischen Kommission und einigen Mitgliedstaaten bekam das Europäische Parlament den Kommissionsentwurf erst im Frühjahr 2010 auf den Tisch. Dabei fand der Vorschlag der grünen Fraktion im Europäischen Parlament, Vorabkontrollen für alle Güterkategorien einzuführen, im außenpolitischen Ausschuss die breite Zustimmung aller Fraktionen – von sehr weit rechts bis sehr weit links. Motiviert durch den Fall von Nokia Siemens Networks, der auch im Unterausschuss Menschenrechte in einer Anhörung thematisiert wurde, fügten sie ihrem Vorschlag einen Passus zu Menschen- und Bürgerrechten hinzu, der den Export von Produkten der Telekommunikation strikt konditionieren sollte.[6]

Doch in der späteren Abstimmung im Handelsausschuss wurde deutlich, welchen zentralen Stellenwert Teile des Ausschusses dem Handel gegenüber menschenrechtlichen Erwägungen beimessen: Mit 14 zu 12 Stimmen wurde nur ein knappes Votum für die Einführung von strikteren Exportregeln erreicht. Aus diesem Grund weigerte sich der Verhandlungsführer der konservativen Fraktion, Daniel Caspary von der schwäbischen CDU, das Ergebnis als Mandat des Außenhandelsausschusses für Verhandlungen mit Rat und Kommission anzusehen und forderte eine erneute Abstimmung im Plenum des Europäischen Parlaments.

Dass dieses schließlich am 5. April 2011 das Vorhaben der Vorabkontrollen aufgab und damit die Position der Ausschussmehrheiten revidierte, muss auch auf das Wirken deutscher Politiker zurückgeführt werden. So wandte sich der damalige Wirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) vor der Plenarabstimmung am 25. März 2011 in einem Brief an die deutschen Abgeordneten. In diesem machte er deutlich, dass es um den Export von Gütern für „unkritische Zwecke“ gehe. Mit der Vorabkontrolle würde man außerdem das „Ziel der Verfahrenserleichterung“ verfehlen, da sie für „Exporteure und die Verwaltung mit erheblichen bürokratischen Belastungen verbunden“ sei. Die Annahme der Änderungsanträge würde daher laut Minister Brüderle die deutsche Exportwirtschaft weiter schwächen und das allgemeine Ziel der Europäischen Union, Verwaltungslasten und Bürokratiekosten zu minimieren, in Frage stellen. Mit 15 Stimmen Mehrheit folgte das Plenum dieser Argumentation.

Die neue Parlamentsposition schließlich schwächte auch die kritischen Stimmen im Rat: Auch dort wurde die Forderung nach einer Vorabkontrolle aufgegeben. Einmal mehr siegten so Handelsinteressen gegenüber demokratischer Solidarität und außenpolitischer Vorsicht. Der Einführung eines zahnlosen und damit unverantwortlichen Exportregimes stand damit nichts mehr im Weg.

Die darauf folgenden Verhandlungen mit Rat und Kommission waren in Windeseile beendet, da es zwischen den drei Institutionen bereits zu Verhandlungsbeginn keine Differenzen mehr gab. Nach dem Wegfall der strengen Vorabkontrollen akzeptierten Rat und Kommission auch die ursprünglich von den Grünen eingebrachte Menschenrechtsklausel für Telekommunikationstechnologie. Schnell war man sich einig, dass Exporte von Gütern mit doppeltem Verwendungszweck in Länder mit Waffenembargos des EU-Rates, der OSZE oder der UN von nun an verboten sein sollen.[7] Am 27. September 2011 nahm das Parlament dieses Schrumpfergebnis an und beendete das Verfahren mit einer Einigung in erster Lesung.

Unterdessen denkt Handelskommissar De Gucht in einem Grünbuch bereits über die Zukunft der EU-Exportkontrolle nach. Im Januar 2012 will er konkrete Vorschläge machen.[8] Dem Kommissar schwebt ein integriertes EU-System vor, das eine gemeinsame Risikobewertung, eine dezentrale Organisation der Ausfuhrkontrolle, ein Informationsaustauschsystem sowie europaweite Instrumente zur Identifizierung verdächtiger Vorgänge umfassen soll.[9] Alle vier Elemente waren bisher aus Gründen der nationalen Sicherheit unter der Kontrolle der jeweiligen Hauptstädte verblieben.

Doch schon jetzt stößt de Gucht mit seinen Gedankenspielen auf den Widerstand der deutschen Bundesregierung. Diese machte Ende Oktober in einer Stellungnahme an die EU-Kommission unmissverständlich deutlich, dass ihr die deutsche Exportindustrie wichtiger ist als eine erneute Reform der Ausfuhrkontrollen für Dual-Use-Güter. Einer damit verbundenen Abgabe von Kompetenzen an die EU oder einer zukünftigen Harmonisierung der EU-Exportkontrollen erteilte sie damit bereits im Vorfeld eine Absage. Stattdessen favorisiert sie Vorschläge, die auf Bürokratieabbau und verbesserte Ausfuhrmöglichkeiten für die Industrie setzen. Und damit nicht genug: Das Thema Menschenrechte blendete die Bundesregierung in ihrem Schreiben gleich völlig aus. Vielmehr heißt es dort, bei der Ausfuhrkontrolle solle das „Bestreben, Proliferationsbemühungen und destabilisierende Waffenanhäufungen zu verhindern, den legalen Handel, insbesondere die Wirtschaftsbeziehungen mit den neuen Gestaltungsmächten nicht unangemessen erschweren und verhindern“.[10] Zu diesen zählt die Bundesregierung bemerkenswerterweise auch das autokratisch regierte Saudi-Arabien oder die Atommacht Indien.

Spätestens jetzt sollten sich die nationalen Parlamente, allen voran die deutschen Abgeordneten, daher endlich stärker in die Gestaltung der EU-Außenhandelspolitik einmischen – schon um Schlimmeres zu verhindern. Der Bundestag allerdings hat das Thema bisher weitgehend verschlafen.

 

Quellennachweis:


[1] Vgl. Dominic Rushe, US to spend $30m fighting internet censorship, in: „The Guardian“, 12.5.2011.

[2] Vgl. Hanna Nikkanen, Technology failed in Iran, http://fifi.voima.fi, 1.3.2010 sowie dies., Nokia connects – now in Iran, ebd., 22.6.2009.

[3] Vgl. Christian Bergmann und Marcus Weller, Berlin unterstützt Export von Spionagesoftware, in: FAKT (ARD), 15.8.2011.

[4] Vgl. Vernon Silver und Ben Elgin, Torture in Bahrain Becomes Routine With Help From Nokia Siemens, in: „Bloomberg News“, 22.8.2011.

[5] Vgl. European Commission, Note to the Trade Policy Committee, Brüssel 17.5.2010, S. 1.

[6] Vgl. Legislative Entschließung des Europäischen Parlaments vom 27.9.2011, www.europarl.europa.eu.

[7] Vgl. Pressemitteilung des Europäischen Parlaments, Exporte von „sensiblen“ Gütern beschränken, 27.9.2011, www.europarl.europa.eu.

[8] Vgl. European Commission, GREEN PAPER. The dual-use export control system of the European Union: ensuring security and competitiveness in a changing world, Brüssel, 30.6.2011.

[9] Vgl. Karel De Gucht, The future of dual-use export controls in the European Union. 2011 Dual-use Exporter Conference, Brüssel, 20.9.2011, http://trade.ec.europa.eu.

[10] Vgl. Die Bundesregierung, Stellungnahme der Bundesregierung zum Grünbuch der Europäischen Kommission zum EU-Ausfuhrkontrollsystem von Dual-Use-Gütern, Bonn 27.10.2011, S. 1f.

(aus: »Blätter« 12/2011, Seite 9-12)
Themen: Wirtschaft, Europa und Krieg und Frieden

 

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