Angesichts der Tatsache, dass auf der Kieler BDK der netzpolitischer Leitantrag des Bundesvorstandes mit dem Titel “Offenheit, Freiheit, Teilhabe – die Chancen des Internets nutzen – den digitalen Wandel grün gestalten!” zur Abstimmung steht, wird so mancher Interessenvertreter derzeit offenbar nervös. So werden wir Grünen gerade in einer Form, in einem Stil und in einem Umfang lobbyiert, wie es weder Bundespartei noch Bundestagsfraktion bisher oft erlebt haben. Einige dieser uns derzeit erreichenden Schreiben von Interessenvertretern haben auch den Weg in die Presseöffentlichkeit geschafft.

Ein Beispiel: Die „Arbeitsgemeinschaft Kino – Gilde deutscher Filmkunsttheater e.V.“, der „Bundesverband der Dienstleistungswirtschaft (BDWi)“, der „HDF KINO e.V.“ und der Interessenverband des Video- und Medienfachhandels“ haben gerade eine gemeinsame Stellungnahme (pdf, 38 KB) zu dem BDK-Antrag des Bundesvorstands verschickt. Zur Einordnung, aus welcher Ecke die Interessenverbände kommen: Bei den Verfassern des Schreibens handelt es zum Teil um die gleichen Verbände, die sich für die unsägliche Kampagne „Raubkopierer sind Verbrecher“ verantwortlich zeichnen. In ihrem Brief kritisieren die Interessenvertreter unter anderem, dass sich der Bundesvorstand der Grünen in dem netzpolitischen Antrag gegen die Vorratsdatenspeicherung ausspricht, dass wir als Grüne den Grundsatz „Löschen statt Sperren“ verfolgen, uns also gegen das sich als in höchstem Maße als kontraproduktiv erwiesene Mittel der Netzsperren stark machen, und uns für die Wahrung der Netzneutralität einsetzen. Die Verbände kritisieren damit direkt grüne – durch unzählige Beschlüsse auf allen Ebenen bestätigte – Grundpositionen, die sowohl bürgerrechtlich als auch sozial- und gesellschaftspolitisch hochgradig geboten sind.

Das Schreiben der Interessenverbände ging an alle Bundestagsabgeordneten und zudem an viele grüne Kreis- und Ortsverbände, verbunden mit der Bitte, die Stellungnahme an die Delegierten des Parteitags weiterzuleiten. Es wird also von Interessenvertretern der direkte Einfluss auf Parteitagsdelegierte gesucht. Nach unserer Kenntnis ein bisher einmaliger Vorgang, der – sollte er Schule machen – Parteitage sicherlich erheblich verändern wird. Da in dem Schreiben – ob nun bewusst oder unbewusst – viele Punkte des auch mit der grünen Bundestagsfraktion abgestimmten Antrags entweder falsch oder zumindest verfälschend wiedergegeben wurden, und zudem anzunehmen ist, dass vielen Adressaten des Schreibens die Hintergründe der Verfasser nicht bekannt sein dürften, haben Konstantin v. Notz, Claudia Roth, Volker Beck und Jerzy Montag in einer kurzen Klarstellung (pdf, 113 KB) wenige, klärende Worte und Fakten zum Hintergrund der derzeitigen Diskussion festgehalten.

Insgesamt bestärkt die Abgeordneten das Schreiben der Interessenverbände in ihrer Haltung und bezüglich ihrer – auch in dem netzpolitischem Leitantrag des Bundesvorstandes formulierten – Positionierungen. So zeige das Schreiben, so die Abgeordneten, „sehr anschaulich, wie unwillig bestimmte Akteure sind, sich im gesamtgesellschaftlichen, aber auch im eigenen Interesse endlich Gedanken über zukünftige Geschäftsmodelle in Zeiten der Digitalisierung und des Internets zu machen“.

In den vom Bundesvorstand beschriebenen Positionierungen geht es mitnichten um das Propagieren einer „Kostenlos-Kultur“, das Gegenteil ist der Fall. So geht der Antrag – in gutem grünen Selbstverständnis – ganz bewusst einen Weg, nicht die Interessen einzelner Verbände zu bedienen, sondern die konzeptionelle Arbeit an einem fairen Interessensausgleich aller fortzusetzen. Dies ganz nach dem grünen Motto „Uns geht’s ums Ganze“. Zahlreiche  in dem Schreiben an die Abgeordneten gerichteten Unterstellungen gehen angesichts der langen Debatten in der Bundespartei, auf Parteitagen, in Landesverbänden, in der Grünen Jugend und in grünen Landes- und Bundesarbeitsgemeinschaften über die letzten 10 Jahre, komplett an der Sache vorbei.

Letztlich geht es bei den derzeitigen Diskussionen um die schlichte Frage, wie wir Grüne auf einen technischen und gesellschaftlichen Umbruch reagieren wollen. Ob wir für die Zukunft Konzepte entwickeln oder ob, wir – wie alle anderen Parteien – die Veränderungen weitgehend ignorieren und die Dinge einfach laufen lassen wollen, um nicht anzuecken. Heute sollte auch dem letzten klar sein: Man kann das bestehende, den Realitäten nicht mehr gerecht werdende  Urheberrecht keinesfalls mit rein repressiven Instrumenten (Hunderttausende von Abmahnungen jährlich, Vorratsdatenspeicherung, Deep Packet Inspection, Two/Three-Strikes-Regelungen) durchsetzen, selbst wenn man es wollte, da es hier sehr klare – auch  verfassungsrechtlich definierte –  Grenzen gibt.

Als Grüne haben wir uns nach intensiven Diskussionen in den vergangenen Jahren immer für einen anderen Weg ausgesprochen. Wer jetzt unterstellst, wir würden mit dem vorliegenden Antrag lediglich auf den Erfolg der Piratenpartei reagieren, zeigt nur, dass er die breite grüne Diskussion zwischen Rechts-, Kultur-, Wissenschafts-, Medien und Netzpolitik der letzten Jahre nicht ansatzweise verfolgt. Wir haben bereits kontrovers über das Urheberrecht diskutiert, als es die Piraten noch gar nicht gab. Die Digitalisierung ist – so trivial es erst einmal klingt – einfach eine revolutionäre Erfindung. Sie ermöglicht das unendlichfache Kopieren von Inhalten, in wenigen Sekunden, zu praktisch Null Kosten und ohne Qualitätsverlust. Zugleich kann man diese Inhalte über das Netz auf der gesamten Welt in Sekundenschnelle verbreiten. Den schlimmsten Diktaturen der Welt, gelingt es nicht, diese neuen Kulturtechniken vollständig zu unterdrücken. In einem freien Rechtsstaat fällt dies -zum Glück! – umso schwerer.

Wer angesichts dieser Tatsache glaubt, wir könnten am bestehenden Urheberrecht einfach festhalten, hat die Zeichen der Zeit schlicht nicht erkannt. Als Mitte der 60er Jahre Pauschalvergütungsmodelle eingeführt wurden, war dies nichts anderes die Reaktion auf den Umstand, dass alle anderen Wege gesellschaftlich nicht umsetzbar gewesen wären. damals hielt man es als schlicht weder leistbar, noch verhältnismäßig, die Erstellung von privaten Kopien durch die regelmäßige staatliche Durchsuchung von Privatwohnungen und Kinderzimmern zu unterbinden. Bemerkenswert heute: Für ein rein repressives Vorgehen und für die oben genannten Instrumente der Rechtsdurchsetzung sprechen sich heute, nachdem in den letzten gut anderthalb Jahren auch in einer extra zum Thema Urheberrecht eingerichteten Arbeitsgruppe der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ diskutiert wurde, nicht einmal mehr die Mehrheit der Vertreterinnen und Vertreter von CDU/CSU aus! Die Erkenntnis, dass ein rein repressives Vorgehen niemandem hilft, scheint, dass zeigt das Schreiben der Interessensverbände nun noch einmal klar, dennoch leider noch nicht bei jedem angekommen zu sei.

In dem von uns Grünen seit langem verfolgtem Weg fühlen wir uns auch durch die gerade von der zuständigen EU-Kommissarin, Neelie Kroes, getätigten, wirklich beachtenswerten Überlegungen zur Reform des Urheberrechts noch einmal bestätigt. Die Rede der Kommissarin zur Notwendigkeit eines modernisierten Urheberrechts, in der unter anderem auch die von uns Grünen entwickelten Idee von Pauschalvergütungsmodellen („Kulturflatrate“) als möglicher Ausweg aus der derzeitigen Misere identifiziert werden, findet man hier: Neelie Kroes: Is copyright working? Einen Artikel, der sehr gut aufzeigt, wohin es führen kann, wenn man auf rein repressive Modelle zur Durchsetzung des Urheberrechts setzt, war vor kurzem bei Spiegel Online zu lesen.

Wir freuen uns auf eine gute, konstruktive Debatte auf der BDK – über das Urheberrecht, Netzpolitik, Demokratie, Europa und vieles mehr!

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