Nach dem Anschlag auf das Pariser Satiremagazin Charlie Hebdo habe ich einen Gastbeitrag verfasst, der am 4. Februar im Tagesspiegel veröffentlicht wurde. An dieser Stelle möchte ich noch einmal darauf aufmerksam machen. In dem Beitrag plädiere ich dafür, die bisherigen Maßnahmen und Vorschläge der Innen- und Sicherheitspolitik auf den Prüfstand zu stellen. Über Eure Kritik und Anregungen freue ich mich.
Die Sicherheitspolitik versagt
Von Jan Philipp Albrecht
Die Politik der anlasslosen Datenspeicherung hat die Gesellschaft unsicherer gemacht. Nun kann nur eine Radikalkur helfen, meint unser Gastautor, der grüne Europaabgeordnete Jan Philipp Albrecht.
Die schrecklichen Anschläge auf das Satire-Magazin Charlie Hebdo und einen jüdischen Supermarkt sowie die Tötung von Polizisten in Paris haben die Welt schockiert. Die weltweite Anteilnahme am Schmerz der Angehörigen und Freunde der Opfer war gewaltig. Rund drei Millionen Menschen in Frankreich und weitere Hunderttausende haben sich zusammengefunden, um Solidarität und Mitgefühl zu demonstrieren. In Paris und an vielen weiteren Orten wurden die Trauermärsche auch zu einem kraftvollen Bekenntnis zur liberalen Demokratie und ihren Freiheitsrechten. Diese Reaktion war notwendig und richtig. Sie zeigt: Auch in der größten Bedrohungslage halten wir an unseren Werten fest und glauben an die Kraft einer freiheitlichen und solidarischen Gesellschaft.
Die Täter von Paris waren den Behörden lange bekannt
Der Glaube allein wird allerdings nicht reichen, um die Sicherheit in den demokratischen Staaten zu garantieren. Es braucht eine kluge und effektive Innenpolitik, die im Rahmen der freiheitlichen Rechtsordnung ein Höchstmaß an Sicherheit gewährleisten kann. Leider zeigen die Anschläge von Paris allerdings deutlicher als zuvor: Die Anti-Terror-Politik seit dem 11. September 2001 ist in eine gefährliche Sackgasse geraten. Trotz umfangreichster Datensammlungen (in Frankreich gibt es schon seit längerem die anlasslose Vorratsdatenspeicherung über zwölf Monate sowie die versuchsweise Erhebung und Analyse von Fluggastdaten) wurden die Anschlagsplanungen nicht entdeckt. Stattdessen waren die Täter den Sicherheitsbehörden sogar schon lange vor den Anschlägen als Gefährder bekannt.
Frankreich hat die Vorratsdatenspeicheurng längst – das eigentliche Problem lag in den Datenbergen
Das eigentliche Problem im Fall der Pariser Anschläge lag demnach nicht in mangelnden Datenbergen, sondern in der zügigen Auswertung und Nachverfolgung vorhandener Anhaltspunkte. Dieses Phänomen steht im Einklang mit den zahlreichen Fällen verübter oder verhinderter Terroranschläge an anderen Orten: Auch in Ottawa, in Boston, in Toulouse und im Flugzeug nach Detroit hatte es Verdachtsmomente gegeben. Doch entweder sind diese in der Masse der Informationen untergegangen oder es fehlt schlicht an ausreichend Personal und Ausstattung, die Daten zügig auswerten zu können. Just vor den Anschlägen von Paris berichtete die Brandenburger Polizei, dass sie der Masse an elektronischen Informationen schon gar nicht mehr ausreichend nachkommen kann.
Bei den Sicherheitsbehörden vor Ort wird massiv gespart
Ursache diese Entwicklung ist ein grundlegender Fehler in der Sicherheitspolitik: Während die anlasslose Datensammlung als vermeintlich günstiges und wirksames Mittel gegen Terroristen und Kriminelle angepriesen und umgesetzt wurde, musste bei den Sicherheits- und Ermittlungsbehörden – vor allem vor Ort – massiv eingespart werden. Der fehlende Fokus der Datensammlungen auf Verdachtsmomente und Risikofelder sorgt dafür, dass der gefühlte Sicherheitsgewinn zu einem realen Verlust an effektiver Sicherheit auf den Straßen führt. Dabei wird immer lauter selbst von führenden Ermittlern bezweifelt, dass die anlasslose Speicherung von Daten überhaupt einen Mehrwert bei der Verbrechensbekämpfung bietet. Vielmehr wäre es notwendig, die bereits umfangreich erlaubten Überwachungsmaßnahmen bei auftretenden Verdachtsmomenten sowie in Risikofeldern in den Fokus der Sicherheitspolitik zu rücken.
Hundertprozentige Sicherheit wird es nicht geben
Wenn das Bekenntnis zur freiheitlichen Demokratie über die Tage der Trauer hinaus tragen soll, müssen wir uns eingestehen: Bei aller Wachsamkeit und entschiedenem Vorgehen von Polizei und Sicherheitsbehörden werden wir hundertprozentige Sicherheit nie erreichen. Aber wir können dafür sorgen, dass unsere Reaktionen tatsächlich geeignet sind, das Maß an Sicherheit und effektiver Strafverfolgung deutlich zu erhöhen. Dazu gehört es aber, sich nicht länger blind von einem diffusen Unsicherheitsgefühl in symbolische Maßnahmen auf Kosten effektiver Sicherheitsarbeit treiben zu lassen. Stattdessen brauchen wir in Deutschland und Europa eine Radikalkur in der Innenpolitik: Die bisherigen Maßnahmen und Vorschläge gehören allesamt auf den Prüfstand. Entscheidend ist nicht, wer lange genug die Notwendigkeit einer Maßnahme behauptet, sondern wer beweisen kann, dass sie tatsächlich geeignet ist, ein höheres Maß an realer Sicherheit zu schaffen.
Der Grünen-Politiker Jan Philipp Albrecht ist Abgeordneter im Europäischen Parlament und dort u.a. Berichterstatter für die EU-Datenschutzverordnung.
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