Nachdem Wikileaks Ende letzten Jahres über 250.000 US-Depeschen veröffentlichte, entstand eine Debatte, die im Wesentlichen von den Verfehlungen der Person Julian Assange und boulevardesken Aussagen über einzelne deutsche PolitikerInnen und weniger durch die Veröffentlichung zu Tage getretenen Herausforderungen für unsere Gesellschaft geprägt war. Die wirklich entscheidenden Fragen und Auswirkungen, die mit der weiter zunehmenden Digitalisierung von Daten und der damit einfacheren Verbreitung dieser einhergehen, wurden in der gebotenen Tiefe öffentlich kaum diskutiert. Diese Diskussion zu führen, muss jedoch nach wie vor unser Anliegen sein. Aus diesem Grund haben Claudia Roth, Bundesvorsitzende von Bündnis 90/DIe Grünen, Gesine Agena, Sprecherin der GRÜNEN JUGEND und ich gemeinsam ein Papier verfasst, in dem wir uns mit diesen Fragen auseinander setzen. Über Eure Ergänzungen, Anmerkungen und Kritik freuen wir uns.

Die Veröffentlichungen der US-Depeschen durch Wikileaks entfachten eine breite Debatte in deren Vordergrund vor allem die Verfehlungen und die Verhaftung von Julian Assange und die eher boulevardesken Einschätzungen über deutsche Politikerinnen und Politiker standen. Eine intensive Debatte über die Herausforderungen vor denen unsere Gesellschaft und die internationale Politik  durch die Digitalisierung und der technisch einfach gewordenen Veröffentlichung von Unmengen von Daten steht, blieb jedoch aus oder wurde nur am Rande geführt. Diese Debatte ist jedoch wichtiger denn je, denn unsere Gesellschaft beginnt sich zu wandeln, der technische Fortschritt hat auch Auswirkungen auf das, was wir als Öffentlichkeit kennen. Nun ist die Zeit, jenseits von der Person Julian Assange, die Debatte zu führen, welche Konsequenzen es aus den jüngsten Entwicklungen zu ziehen gilt.

Mit der fortschreitenden Digitalisierung und den damit verbundenen Möglichkeiten, Unmengen von Daten auf kleinstem Raum zu speichern und zu transportieren, verändert sich die Verfügbarkeit von Informationen drastisch. Das Verständnis von Öffentlichkeit, Transparenz, Journalismus, Geheimhaltung und Vertraulichkeit scheint sich zu verschieben. Politisch ist entscheidend, ob es gelingt, die durch die Wikileaks-Veröffentlichungen angestoßene Debatte zu nutzen, um echte Antworten für diese neue Zeit zu finden. Interessant erscheint hier vor allem, wie der Staat dem berechtigten Transparenzanspruch der Bürgerinnen und Bürger besser als bisher entsprechen kann. Dieses  Jahr jährt sich die Verabschiedung des Informationsfreiheitsgesetzes zum fünften Mal. Diese Chance sollten wir nutzen und das Informationsfreiheitsgesetz, das bereits jetzt eine rechtliche Grundlage für mehr staatliche Transparenz bietet, in das digitale Jahrhundert weiter zu einer Informationspflicht des Staates, einem Informationsfreiheitsgesetz 2.0 zu entwicklen. Wikileaks zeigt eben auch, wie dringend wir die Initiativen für „Open Government“ und offene staatliche Daten (Open Data) zum Erfolg führen müssen.

Macht braucht Kontrolle
Für uns Grüne ist klar: Demokratie braucht Transparenz und Kontrolle. In den vergangenen Jahren ist durch investigativen Journalismus immer wieder Licht in zum Teil intransparente Entscheidungsprozesse, Unregelmäßigkeiten, Lügen und Machtmissbrauch auch in der internationalen Politik und Diplomatie gekommen. Dies ist ein Gewinn für die demokratische Kontrolle der Politik durch die Bürgerinnen und Bürger. Insbesondere Völker- und Menschenrechtsverstöße müssen aufgedeckt und nicht unter den Teppich gekehrt werden.

Zuviel Geheimniskrämerei verträgt sich nicht mit unseren Vorstellungen von offenen und transparenten internationalen Strukturen, in denen nicht nur Staatsoberhäupter mitreden, sondern in die auch weitere Akteure eingreifen können. Ohne an dieser Stelle eine verfrühte rechtliche Bewertung vornehmen zu wollen: Wikileaks hat – bei allen damit einhergehenden, noch klar zu benennenden Problemen – mit seinen Veröffentlichungen auch einen Beitrag zu einer erhöhten internationaler Kontrolle geleistet, sei es durch das schon vor Längerem veröffentlichte Irak-Video, sei es durch die aktuellen Depeschen, in denen beispielsweise Korruptionshinweise in der Karsai-Regierung, die amerikanische Anordnung auf Schnüffelaktionen gegen UN-MitarbeiterInnen oder die Verwicklungen der USA um die Verhaftung des Deutschen al-Masri aufgedeckt wurden. Wikileaks zeigt somit auch, wie Machtkontrolle von Seiten der Neuen Medien geschehen kann. Es ist somit eine internationale, etwas anarchistische anmutende Antwort auf die Komplexität und Undurchdringlichkeit immer globalerer Probleme und internationaler Entscheidungs- und Verantwortungsgeflechte.

Durch die Entwicklung zur vielfältig verflochtenen Informationsgesellschaft verändert sich auch die Arbeit von Journalismus und Presse. Es ist heute kein Problem mehr, einer breiten Öffentlichkeit auch umfangreiche Hintergrundinformationen zur Verfügung zu stellen. Auf diese Weise können immer mehr Menschen eigene Einschätzungen, Wertungen und Gewichtungen vornehmen und auf diese Weise an der öffentlichen Debatte selbstbestimmt teilnehmen. Nur die wenigsten Einzelpersonen sind jedoch in der Lage, immer größere Mengen an Daten alleine zu sichten und die für sie interessanten Informationen eigenständig zu bewerten und in komplexe Kontexte zu setzen. Deshalb ist und bleibt die Arbeit des klassischen Journalismus auch in Zeiten von Daten-Plattformen wie Wikileaks wichtig. Inwieweit auch die Arbeit von Wikileaks Journalismus ist, soll hier nicht beurteilt werden. Die Beantwortung dieser Frage spielt für uns auch keine vordergründige Rolle. Denn klar ist, dass Portale wie Wikileaks bislang den Journalismus im engeren Sinne nicht ersetzen, sondern bestenfalls ergänzen. Sie sind eine journalistische Vorinstanz, ein neuer Intermediär und somit Teil einer kritischen Öffentlichkeit, die geschützt werden muss. Sicherlich muss über den ethischen Rahmen bei der Veröffentlichung von Informationen über Plattformen wie Wikileaks intensiv diskutiert und ein Rahmen für den effektiven Schutz von Persönlichkeitsrechten und berechtigten Geheimhaltungsrechten gefunden werden.

Staatliche Eingriffe aber, die das Ziel verfolgen, derartige Veröffentlichungen per se zu unterbinden, wie sie bisher im Falle von Wikileaks immer wieder zu beobachten waren, sind scharf zu verurteilen. Hier wird in einem nicht hinnehmbaren Maße Einfluss auf die Meinungs- und Informationsfreiheit ausgeübt. Dass verschiedene Anbieter Wikileaks von ihren Servern verbannten, dass Kontenzugänge gesperrt wurden und Einfluss auf Veröffentlichungsmöglichkeiten stattgefunden hat, ist für uns nicht hinnehmbar. Eine solche Einflussnahme ist demokratischer Staaten unwürdig. Es darf nicht sein, dass Internetportale und beteiligte Personen, die kritische und unliebsame Informationen über Staaten veröffentlichen, unter staatlichen Druck geraten, strafrechtlich oder geheimdienstlich verfolgt und ihre Domains gesperrt werden. Dies kommt einer Zensur gleich und der stellen wir uns entgegen. Ebenso teilen wir die Kritik der Hohen Kommissarin der UN für Menschenrechte, Navanethem Pillay, die sich angesichts der jüngsten Vorgänge, die das Ziel verfolgten, Druck, auf Firmen auszuüben, darunter Banken, Kreditkartenunternehmen und Internet Service Provider, um die Finanzströme zu Wikileaks zu unterbrechen, und das Hosting der Website zu unterbinden, besorgt zeigte. Diese Maßnahmen könnten als Versuch interpretiert werden, Wikileaks von weiteren Veröffentlichungen abzuhalten, wodurch das Recht auf freie Meinungsäußerung verletzt werde. Bürgerrechte, wie die Presse- und Meinugsfreiheit, sind für uns höchste Güter, von ihnen lassen wir uns leiten – auch in der Debatte um Wikileaks.

Ethischer Rahmen für´s Leaken
Anarchistisches Leaken widerspricht Rechtsstaatlichkeit. Deshalb müssen sich Leak-Portale bei zukünftigen Veröffentlichungen an bestimmte Standards halten. Ansonsten laufen sie Gefahr, sich selbst zur „digitalen Klatschpresse“ zu degradieren und wahllos Persönlichkeitsrechte und die Privatsphäre von Menschen zu verletzen. Die Veröffentlichung der homosexualität des malayischen Oppositionsführers hat für die Öffentlichkeit keinen Nutzen, ihm selbst aber viel Schaden verursacht. Stattdessen erleichtert sie derzeit staatliche Hetze gegen die Opposition, schwächt die Demokratiebewegung des Landes und spielt so den Falschen in die Hände. Nicht jede Information, die veröffentlicht werden kann, sollte tatsächlich auch veröffentlicht werden. Getreu dem alten CCC-Grundsatz „Öffentliche Daten nutzen – private Daten schützen“ müssen die Plattformen genau überlegen, welche Verantwortung mit der Veröffentlichung einhergeht und wo die Grenzen liegen. Leak-Plattformen und ihre Betreiberinnen und Betreiber kommen nicht umhin – ähnlich wie Journalistinnen und Journalisten – ethische Standards festzulegen und einzuhalten.

Niemand kann behaupten, dass an Daten von Privatpersonen wie z.B. Krankenakten ein öffentliches Interesse besteht. Und natürlich benötigen auch Politik und Diplomatie geschützte Räume. Gäbe es sie nicht, wäre so manche im letzten Augenblick gelöste Krise der Vergangenheit eventuell nicht so glimpflich verlaufen. Nicht jede Kommunikation – weder diplomatische, noch private – kann und sollte im öffentlichen Raum stattfinden oder nachträglich dorthin transportiert werden. Persönlichkeitsschutz geht manchmal eben auch vor Transparenzinteresse. Darum kann auch keiner von der Verantwortung, veröffentlichte Daten nach diesen Kriterien zu prüfen, entlassen werden.

Die Unsicherheit von Politik, Wirtschaft und Teilen der Öffentlichkeit bzgl. des Internets tritt auch in der Debatte um Wikileaks wieder ans Licht: Wirklich durchtragende Antworten, wie mit den neuesten Entwicklungen der digitalen Welt und den damit verbunden Veränderungen unserer Demokratie umzugehen ist, gibt es bislang nicht. Es herrscht eher ein diffuses Gefühl der Vorahnung, dass es weitere ähnliche Veröffentlichungen geben wird und die Auswirkungen dieser neuen Transparenz auf unsere Gesellschaft massiv sein werden.

Dabei wissen wir heute: Daten können immer einfacher geteilt werden, immer mehr Menschen werden, sofern wir nicht in der nächsten Zeit grundlegend neue Sicherheitskonzepte für den Schutz dieser Daten entwerfen und durchsetzen, legal oder illegal Zugriff auf sie haben. Durch die  Diskussion um Wikileaks wurde auch deutlich: Daten, auf die mehrere hunderttausend Personen Zugriff haben – wie im Falle der Depeschen der USA-Diplomatie – als „geheim“ einzustufen ist lächerlich. Vor diesem Hintergrund gewinnt der alte Grundsatz der Datensparsamkeit neue Aktualität, gerade für staatliche Daten muss gelten: Weniger ist mehr. Statt ständig neue Datenberge anzuhäufen, müssen wir vorhandene Stück für Stück abtragen oder dafür sorgen, dass sich effektive Schutzkonzepte ähnlich schnell weiterentwickeln, wie es Internet und Digitalisierung tun. Eine der Antworten auf die durch Wikileaks angestoßene Diskussion kann daher nur sein: Wer Sicherheit von bestimmten Daten nicht garantieren kann, ist gut damit beraten, diese gar nicht erst zu erheben. Das de Maiziere die Widereinführung der Vorratsdatenspeicherung fordert zeigt, dass er selbst nichts aus Wikileaks gelernt hat. Wir werden uns weiterhin gegen diese Sammelwut stellen.

Geheim ist nur das Geheime
Die neuen Herausforderungen sind auch eine Aufforderung an die Politik. Staaten, Firmen und internationale Regime sind also gefordert, Vorgänge, Abläufe und Dokumente offen zu legen. Wir sind überzeugt, dass die Bürgerinnen und Bürger ein Recht haben, Einblick in das Handeln ihrer gewählten Repräsentanten zu bekommen. Open Governance und Open Data sind die Antworten auf dieses wachsende Bedürfnis nach Offenheit und Transparenz. Der Staat ist also gefordert, Offenheit zu zeigen und bestehende Transparenzregelungen, wie das deutsche Informationsfreiheitsgesetz konsequent für das Internetzeitalter fit zu machen. Bei Geheimnissen, die keine Geheimnisse mehr sind, lohnt auch keine Veröffentlichung.

Wir sehen in den schon länger anhaltenden Entwicklungen, die durch die Veröffentlichungen von Wikileaks auf die Tagesordnung der Politik gehievt wurden, große Chancen. Denn wir stehen für eine Demokratie, die sich nicht abschirmt vor den BürgerInnen, durch die sie besteht. Wir stehen für Transparenz und Kontrolle der Politik, für Einmischung der Bürgerinnen und Bürger und für einen Staat, der dem berechtigten Transparenzanspruch auch mit Hilfe des Internets selbstständig entgegenkommt. Für eine weitere Öffnung staatlicher Strukturen, für mehr Transparenz und Teilhabemöglichkeiten wollen wir uns auch in Zukunft engagieren.

Claudia Roth, Bundesvorsitzende der Grünen,
Konstantin von Notz
, innen- und netzpolitischer Sprecher der grünen Bundestagsfraktion,
Gesine Agena
, Sprecherin der GRÜNEN JUGEND

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