Dieser Tage erreichte die Projektgruppe Netzneutralität der Enquête-Kommission Internet und digitale Gesellschaft ein bemerkenswertes „Save the Date“-Schreiben zum 1. Fachdialog Netzneutralität. Am 16. November 2011 soll die Auftaktveranstaltung stattfinden. Weitere Veranstaltungen sollen durch vom Wirtschaftsministerium beauftragte Studien flankiert werden. Eigentlich müsste man sich freuen, dass das BMWi nach den Anträgen von Grünen, Linken und SPD das Thema endlich ernst nimmt. Trotzdem wirkt das Timing der Einladung absurd: Am 20. Oktober wird der Bundestag in 2./3. Lesung das für die Netzneutralität maßgebliche Telekommunikationsgesetz (TKG) verabschieden. Die dort vorgesehenen Möglichkeiten zur Erhaltung der Netzneutralität reichen, wie die gesamte Opposition wiederholt deutlich gemacht hat und die Anhörung im Wirtschaftsausschuss am 8. Juni verdeutlicht hat, bei weitem nicht aus. Man lässt das Kind also ins Bade fallen, anstelle eine weitblickende gesetzliche Regelung für die gleichberechtigte, diskriminierungsfreie Datenübertragung im Internet vorzulegen.

Diese Verzögerungstaktik kennzeichnet das fahrlässige Nicht-Handeln der Koalition, die den missliebigen Bericht der Projektgruppe Netzneutralität innerhalb der Enquête-Kommission bereits zwei Mal mit allen Geschäftsordnungstricks verschieben ließ. Am 17. Oktober wird der Bericht – mitsamt eines konstruktiven Sondervotums von Grünen, SPD und Linkspartei zur Erhaltung der Netzneutralität – erneut zur Verabschiedung stehen. Auch beim dritten Anlauf wird entscheidend sein, wie sich die Sachverständigen von Union und FDP bei der Abstimmung verhalten werden. So hatte der Netzaktivist padeluun angekündigt, für das Sondervotum der Oppositionsfraktionen und der anderen Sachverständigen zu stimmen. Für die Bundestagsdebatte drei Tage später wird das Votum der Enquête-Kommission eine wichtige Rolle spielen.

Die grüne Bundestagsfraktion hat die Bundesregierung frühzeitig dazu aufgefordert, sich auf europäischer Ebene für eine gesetzliche Festschreibung der Netzneutralität einzusetzen (Bundestagsdrucksache 17/3688). Gerade auch vor dem Hintergrund der Datenschutzprobleme, die Kontrolltechniken wie Deep Packet Inspection (DPI) mit sich bringen, ist dies dringend geboten. Die bisherigen Kann-Bestimmungen für mehr Transparenz hinsichtlich von Eingriffen der Provider in die Netzneutralität reichen bei weitem nicht aus, wenn die egalitäre Netzarchitektur des Internets weiterhin als Grundlage gleichberechtigten Zugangs und fairer Wettbewerbsbedingungen bewahrt werden soll. Wir haben uns deshalb entschieden, einen Änderungsantrag zur Sicherstellung der Netzneutralität innerhalb des Telekommunikationsgesetzes vorzulegen, der im Wirtschaftsausschuss und dem Unterausschuss Neue Medien des Bundestags aufgesetzt werden wird.

Hierzu haben wir im Vorfeld Übersetzungen der niederländischen, belgischen und französischen Gesetzesentwürfe [1, 2, 3] anfertigen lassen, die wir an dieser Stelle allen zur Beförderung der politischen Debatte zur Verfügung stellen. In den Niederlanden ist im Juni 2011 – als Teil der Umsetzung der europäischen Vorgaben für die Regulierung der Telekommunikation – die hier dokumentierte Beschlussvorlage als Gesetz zur Netzneutralität im Mobilfunk erlassen worden. Auch in Deutschland betreffen die aktuellen Verletzungen der Netzneutralität vor allem den Mobilfunksektor: Datentarife für UMTS-Zugang sind mittlerweile mit Ausschlüssen von Peer-2-Peer-Anwendungen und Telefonie-Apps gespickt. Im deutschen Festnetz werden Benachteiligungen von Anwendungen zwar seltener öffentlich, aber Vorfälle wie die im Mai bekannt gewordene Verlangsamung von YouTube bei der Deutschen Telekom machen deutlich, wie der ökonomische Konflikt zwischen Diensteanbietern und Providern auf dem Rücken der User ausgetragen wird, wenn es nicht klare gesetzliche Regeln gibt. Gerade die Angebote mit LTE-Funktechnologie, mit der Versorgungslücken im ländlichen Raum festnetzähnlich geschlossen werden sollen, machen die Einschränkungen aus dem Mobilfunkfunkbereich zur traurigen Normalität für Verbraucherinnen und Verbraucher.

Während in Island Informationsfreiheit und Netzneutralität sogar Teil der – kollektiv über das Internet erstellten – Verfassung werden sollen, ist trotz der niederländischen und belgischen Initiativen die Netzneutralität in Europa noch lange nicht gesichert. Zwar gibt es mittlerweile die Meldestelle respectmynet.eu, die Verletzungen per Crowdsourcing dokumentieren soll und ein angekündigter Brüsseler Hackday soll neue Messinstrumente gegen Eingriffe in die neutrale Datenübermittlung erbringen. Im Europaparlament drohte hingegen zwischenzeitlich ein Kippen zugunsten einer Auflösung der Netzneutralität. Von Seiten der EU-Kommission kommt man zwar dem Versprechen nach, die Offenheit und Freiheit des Internets zu überwachen. Aber die aktuell von Seiten der Kommissarin Neelie Kroes angestoßene Konsultation zur Diskriminierungsfreiheit im Netz, an der Ihr Euch hier bis zum 28. November beteiligen könnt und sollt, entwickelt keine gesetzgeberische Initiative (eine Bewertung des EU-Jargons darin findet Ihr bei Erich Moechel). Der europäische Datenschutzbeauftrage Peter Hustinx hat jüngst noch einmal ermahnt, die Netzneutralität aktiv zu schützen und Netzwerkmanagementtechniken wie DPI gesetzlich zu kontrollieren.

Wir Grüne verstehen Netzneutralität als fundamentales Prinzip eines lebenswerten und innovativen Internets. Wenn sich diese Erkenntnis auch im Wirtschaftsministerium – wenn auch verspätet – durchsetzt und selbst die Kanzlerin sich mehr und mehr zur Netzneutralität bekennt, ist die Zeit für den Gesetzgeber reif zum Handeln.

Dokumentation:

[1] Gesetzentwurf zur Netzneutralität in den Niederlanden (leider nicht vollständig, falls jemand eine Übersetzung des verabschiedeten Gesetzes kennt, sind wir für Übersendung sehr dankbar)

[2] Gesetzentwurf zur Netzneutralität in Belgien

[3] Gesetzentwurf zur Netzneutralität in Frankreich

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