In der Ausgabe von Zeit Online vom 06. August 2013 habe ich mich in einem Gastbeitrag mit dem Begriff der informationellen Selbstbestimmung und der Frage, ob wir FacebooknutzerInnen nicht selber Schuld seien, auseinandergesetzt. Meinen Artikel im Volltext dokumentieren wir hier.

Hört auf, Überwachung mit Facebook zu rechtfertigen!

Überwachung beschneidet Freiheit. Zu argumentieren, Menschen seien mitschuldig, weil sie alles ins Netz stellen, ist eine Frechheit, schreibt Malte Spitz von den Grünen.

Wir gehen in die neunte Woche der Enthüllungen rund um die massive Überwachung unserer Kommunikation durch die NSA, das britische GCHQ und anderer Geheimdienste. Die Bundesregierung versucht weiterhin fleißig zu vertuschen und zu beschwichtigen. Und immer wieder fällt dabei ein Argument, direkt oder sinngemäß: „Die Leute sind ja quasi selber mitschuldig an der Überwachung, wenn sie Facebook, Apple und Google ihre Daten hinterherwerfen.“

So sagt es beispielsweise auch Otto Schily, Revoluzzer a.D. und ehemaliger Bundesinnenminister, in einem aktuellen Interview: „Viele Bürger geben sorglos alle möglichen Informationen preis, an Unternehmen wie Google, Facebook und andere.“

Dieser Logik folgend, könnte man viele solcher Vergleiche ziehen: Wer im Straßenverkehr verletzt wird oder stirbt, ist selbst schuld, hat er sich doch in diesen begeben. Angestellte in medizinischen Berufen sind selbst schuld, wenn sie durch multi-resistente Keime erkranken, sie arbeiten schließlich im Krankenhaus. Genau wie nach dieser Logik Sportler Schuld daran tragen, wenn sie sich Verletzungen zuziehen, oder Handwerker, wenn sie im Alter Rückenprobleme erleiden.

Doch all diese Vergleiche sind genauso falsch, wie der Versuch, staatliche Überwachung durch den Vergleich mit Facebook zu relativieren. Wer das Internet nutzt, darf nicht und muss nicht hinnehmen, überwacht zu werden. Wer mit einem Telekommunikationsunternehmen einen Vertrag über einen Internetzugang schließt, unterzeichnet damit nicht die Vollmacht, dass der Staat sein digitales Leben ausspionieren und seine Grundrechte über Bord werfen darf.

Die Menschen, die ich kenne, nutzen Angebote von Facebook, Google und Co aus freien Stücken. Sie wissen über die datenschutzrechtlichen Probleme solcher Angebote Bescheid. Die meisten von ihnen sind sich auch bewusst, dass sie für kostenfreie Dienste ihre Daten zu Werbezwecke freigeben und wägen diese Kosten gegen den persönlichen Nutzen ab, den sie davon haben. Genau darum sind im Internet Pseudonyme beliebt, sind Fake-Profile keine Seltenheit und wird nicht jedes freie Eingabefeld fleißig und wahrheitsgemäß ausgefüllt. Datensparsamkeit steht schon heute bei den meisten Internetnutzern und Nutzerinnen im Mittelpunkt.

Überwachung ist das Ende der Selbstbestimmung

Die politisch Verantwortlichen, in der Vielzahl alte Männer aus der Präinternetzeit, sollten nicht so tun, als seien die Menschen dumm und wüssten nicht was sie tun. Auch wenn nur die wenigsten Menschen sich 150 Seiten Allgemeine Geschäftsbedingungen durchlesen, auch wenn junge Menschen manche Bilder online stellen, die sie vielleicht später einmal bereuen könnten, und auch wenn nicht jede und jeder den Fluss globaler Datenströme überblickt, bedeutet das nicht, dass die Menschen ihr Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung aufgeben.

Im Gegenteil. All diese Dinge geschehen, gerade weil Menschen ihre Selbstbestimmung leben. Das Bundesverfassungsgericht schreibt in seinem Urteil zur Volkszählung 1983: „Individuelle Selbstbestimmung setzt aber – auch unter den Bedingungen moderner Informationsverarbeitungstechnologien – voraus, dass dem Einzelnen Entscheidungsfreiheit über vorzunehmende oder zu unterlassende Handlungen (…) gegeben ist.“ Wer sich ein Facebook-Konto anlegt oder es wie die Mehrheit der Deutschen eben nicht tut, nutzt diese Entscheidungsfreiheit.

Die durch dieses Urteil verbriefte informationelle Selbstbestimmung wird den Menschen jedoch geraubt, wenn ein Geheimdienst Mails automatisch mitliest, wenn er SMS auswertet und wenn er Telefonate mitschneidet. Wenn das gesamte Kommunikationsverhalten protokolliert und in Datenbanken zusammengeführt wird, dann ist die informationelle Selbstbestimmung nicht nur bedroht, sondern sie ist aufgehoben.

Und all das findet statt. Es ist keine Fiktion, sondern durch Edward Snowdens Enthüllungen nachlesbare und bittere Realität. Der Spiegel listet aktuell in einer Grafik auf, dass die NSA zwischen dem 10. Dezember 2012 und 8. Januar 2013, 550 Millionen Kommunikationsdatensätze zu Deutschland gespeichert und ausgewertet hat. Und was macht die Bundesregierung? Die Spin-Doktoren von Angela Merkel und der deutschen Geheimdienste versuchen genau diesen Aspekt jetzt herunterzuspielen, indem sie ihn relativieren. Die genannten Zahlen würden ja, wenn sie Deutsche beträfen, „nur“ rund ein Prozent aller Kommunikationsdaten ausmachen, schreibt sinngemäß die Welt.

Sollten diese Zahlen stimmen und die NSA so viele deutsche Kommunikationsdaten sammeln, bedeutet es, dass in Deutschland eine Millionen Menschen Tag und Nacht bei jedem Schritt ihrer digitalen Kommunikation überwacht werden. Lückenlos. Meine eigenen veröffentlichten Vorratsdaten zeigen eindeutig, wie genau sich das Leben aus solchen Daten nachzeichnen lässt. Folgt man den Argumenten der NSA, dass die Daten vor allem abgefangen und nicht gezielt erhoben werden, dann werden vermutlich mehrere Millionen Deutsche zwar nicht vollständig, aber sehr umfänglich überwacht und ihre digitale Kommunikation dabei dokumentiert.

Dabei ist es egal, ob nun eine Million Deutsche vollständig, oder mehrere Millionen Deutsche sehr umfänglich überwacht werden. Beides ist ein neues Ausmaß der Überwachung und der größte Überwachungsskandal unserer bundesdeutschen Geschichte. Es ist der organisierte Rechtsbruch.

Denn damit wird gleichzeitig ein weiterer wichtiger Satz aus dem Volkszählungsurteil ad absurdum geführt: „Wer nicht mit hinreichender Sicherheit überschauen kann, welche ihn betreffende Informationen in bestimmten Bereichen seiner sozialen Umwelt bekannt sind, und wer das Wissen möglicher Kommunikationspartner nicht einigermaßen abzuschätzen vermag, kann in seiner Freiheit wesentlich gehemmt werden, aus eigener Selbstbestimmung zu planen oder zu entscheiden. Mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung wären eine Gesellschaftsordnung und eine diese ermöglichende Rechtsordnung nicht vereinbar, in der Bürger nicht mehr wissen können, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß.“

Das Bundesverfassungsgericht hat 1983 auch formuliert, was daraus folgt. Der Satz gilt heute genau wie damals: „Dies würde nicht nur die individuellen Entfaltungschancen des Einzelnen beeinträchtigen, sondern auch das Gemeinwohl, weil Selbstbestimmung eine elementare Funktionsbedingung eines auf Handlungsfähigkeit und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger begründeten freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens ist.“

Die massive Überwachung unserer Kommunikation ist nicht hinnehmbar. Sie ist mit nichts zu rechtfertigen. Sie damit zu relativieren, dass die Bürger und Bürgerinnen doch mitschuldig seien, ist eine bodenlose Unverschämtheit. Die informationelle Selbstbestimmung ist eine große Errungenschaft unserer Demokratie. Offensichtlich ist es heutzutage notwendiger denn je, sie zu verteidigen.

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