In den nächsten Tagen werden wir einige parlamentarische Initiativen von uns einstellen, über die wir in den vergangenen, durchaus hektischen Wochen nicht geschafft haben, zu berichten. Gestern hatten wir bereits über eine Kleine Anfrage von uns zum Thema „Schwachstellen bei der Ausgabe von elektronischen Ausweisen und Komponenten der Telematikinfrastruktur im Gesundheitswesen“ gebloggt.

Am 9. Oktober 2019 hat der von antisemitischem und rassistischem Hass erfüllte Rechtsextremist Stephan B. in Halle (Saale) versucht, mit Waffengewalt in eine Synagoge mit dem Ziel einzudringen, möglichst viele Mitglieder der jüdischen Gemeinde zu töten, die sich an Jom Kippur in der Synagoge versammelt hatten. Als dieser Plan – nur um Haaresbreite und aufgrund der guten Eigensicherung der Synagoge – scheiterte, hat er eine Passantin und den Gast eines Döner-Imbisses getötet und weitere Personen schwer verletzt.

Ziel und die antisemitischen Motive der Tat hatte Stephan B. in sozialen Netzwerken bekanntgegeben. So veröffentlichte er, wie andere Täter zuvor, unmittelbar vor der Tat ein Bekennerschreiben in englischer Sprache im Internet, möglicherweise, um hiermit besonders viele Personen zu erreichen. In seinem wirren Pamphlet nimmt er bewusst Bezug mehrfach auf in Online-Games verbreitete „Achievements“ und Codes. Weiter führt er seine antisemitischen, antifeministischen und rechtsextremen Motive und seinen kruden Glauben an die antisemitische Vorstellung einer „jüdischen Weltverschwörung“ aus.

Die Ausführung der Tat übertrug er per Helmkamera live auf der Streaming-Plattform Twitch, die vorrangig zur Übertragung von Videospielen genutzt wird. Hierbei orientierte sich Stephan B. an dem Attentäter von Christchurch, der seine Tat ebenfalls live im Internet streamte, damit sie vermeintliche Anhänger verfolgen können. Dabei kommentierte der Täter sein Vorgehen und seine Ausrüstung ganz im Stil eines Lets-Play-Videos.

Stephan B. führte eine erhebliche Anzahl Waffen und Sprengsätze mit sich, die nach Presseberichten zumindest in großen Teilen selbstgebaut waren und deren Bauanleitungen er ebenfalls im Internet gefunden haben soll. Ob Stephan B. bei seiner Tat Mittäter oder Unterstützer im strafrechtlichen Sinne hatte, ist Gegenstand der polizeilichen Ermittlungen. Unter anderem der Rechtsextremismusexperte Matthias Quent weist jedoch darauf hin, dass Stephan B. in jedem Fall als „Teil eines virtuellen Netzwerks“ gesehen werden muss.

Die Nutzung verschiedener digitaler Dienste und Plattformen durch Rechtsextremistinnen und Rechtsextremisten zur Vernetzung, Radikalisierung und Verbreitung ihrer menschenverachtenden Ideologie ist nach unserer Ansicht bei Weitem kein neues Phänomen und hat bei praktisch allen terroristischen Taten der vergangenen Jahre eine entscheidende Rolle gespielt. Dennoch scheint es nach unserer Ansicht so, dass Sicherheitsbehörden diese Entwicklungen noch immer nicht der neuen Gefahrenlage angemessen im Fokus haben und entsprechend handeln.

Dies gilt nach unserer Ansicht auch für gut koordinierte Kampagnen von Rechtsextremistinnen und Rechtsextremisten sowie Sympathisantinnen und Sympathisanten, die das Ziel verfolgen, zu diffamieren, zu bedrohen und von ihrem Engagement abzuhalten. So ist zum Beispiel seit dem Wahlkampf zur Bundestagswahl 2017 das verdeckt operierende Netzwerk von Rechtspopulistinnen und Rechtspopulisten, Rechtsextremen und extremen Rechten „Reconquista Germanica“ aktiv, in welchem gezielt Online-Attacken auf politische Gegner, Medien und Institutionen koordiniert werden. Auch bei zurückliegenden Landtagswahlen spielten rechte und rechtsextreme Netzwerke bei Diffamierungskampagnen, Bedrohungen und Volksverhetzungen eine entscheidende Rolle.

Bei Online-Strategiespielen und Ego-Shootern bilden sich seit vielen Jahren rechtsextreme Spieleclans mit Namen wie „Sturmtrupp Division 88“ oder „White-Power-Clan“. Auf Spieleplattformen wie Steam wirdseit Jahren sehr offen rechtsextremistisch gehetzt, es wird rechtsextrem motiviertem Terror wie dem von Anders Breivik gehuldigt und antisemitische, rassistische und frauenverachtende Hetze betrieben, ohne dass Plattformbetreiber dagegen entschlossen vorgehen. Auf diesen Missstand haben wir immer wieder aufmerksam gemacht.

Der Verfassungsschutzbericht 2018 benennt die Zahl rechtsextremer Websites, Profile oder Portale als hoch fluktuierend. In Extremfällen reagierten die Administratoren von Profilen der rechtsextremistischen Szene auf Löschungen sehr kurzfristig und schüfen, so die Ausführungen in dem Bericht, alsbald unter ähnlichen Namen eine neue Internetpräsenz. Laut dem Verfassungsschutzbericht sind bei der Nutzung des Internets für Propagandazwecke Internettagebücher in Videoform (sogenannte V-Logs) ein besonders beliebtes Format.

Nicht erst seit der schrecklichen Tat von Halle sind die skizzierten Entwicklungen den Sicherheitsbehörden bekannt. Sie waren mehrfach auch Gegenstand parlamentarischer Anfragen und Initiativen. Dennoch bleibt nach Ansicht der Fragesteller ein engagiertes Vorgehen hiergegen sowohl auf nationaler wie europäischer und internationaler Ebene aus. Trotz aller Verschleierungsbemühungen und Ausweichbewegungen und der Tatsache, dass es sich hier um relativ neue Phänomenbereiche handelt, ist ein sehr viel entschlosseneres, rechtsstaatliches Vorgehen gegen diese Entwicklungen zum Schutz von Demokratie, öffentlichen Diskursen und Bedrohten dringend erforderlich. Vor diesem Hintergrund haben wir vor einigen Wochen eine sehr umfassende Kleine Anfrage an die Bundesregierung gestellt. Die Antwort der Bundesregierung (pdf) über die verschiedentlich medial berichtet wurde, dokumentieren wir hier.

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