In unregelmäßigen Abständen berichten wir in der Rubrik “Aus den Ländern” über verschiedene Initiativen, Veranstaltungen und Debatten aus dem Bereich Innen- und Netzpolitik in den einzelnen Bundesländern.  An dieser Stelle hat Johannes Lichdi einen Gasteitrag verfasst, in dem er über ausführlich über die Dresdner Funkzellenabfrage und den hierzu bis heute ans Tageslicht gekommenen Informationen berichtet.

Am 19. Juni 2011 berichtete die „taz“ unter dem Titel „Mal eben ausgespäht“ von der Erfassung von Handyverbindungsdaten Tausender Demonstrierender, Anwohner, Abgeordneten und Rechtsanwälte durch die Polizei. Die staatlichen Funkzellenabfragen offenbarten ein Ausmaß amtlichen Überwachungseifers, das selbst in Sachsen bislang unvorstellbar erschien. Dieser Artikel bietet Einblicke in die grundrechtliche Entsicherung des Denkens und Handelns der sächsischen Strafverfolgungsbehörden sowie Abwehrstrategien gegen Kritik.

I. Die Dresdner Funkzellenauswertung
1. Erhebung der Telekommunikationsverbindungsdaten

Die Sonderkommission 19/2 (Soko) der Polizeidirektion Dresden, die zur Aufklärung der am 19.2.2011 begangenen Straftaten eingesetzt wurde, regte bereits an ihrem zweiten Arbeitstag bei der Staatsanwaltschaft eine Funkzellenabfrage an. Der Antrag der Staatsanwaltschaft vom gleichen Tage war als richterlicher Beschluss auf dem Briefkopf des Amtsgerichts Dresden ausformuliert und wurde vom zuständigen Ermittlungsrichter noch am 22.2. ohne Änderungen abgezeichnet. Die Soko ließ an 14 Tatorten für 23 Zeiträume Verkehrsdaten zwischen jeweils 10 und 90 Minuten erheben. Insgesamt wurden 8 Stunden und 50 Minuten erfasst. Die Provider übermittelten zunächst 138.630 Verkehrsdaten, die von 65.645 Rufnummern stammten.

Am 25.2.2011 „regte“ auch das Landeskriminalamt (LKA) räumlich und zeitlich weit umfangreicher angelegte Funkzellenabfragen „an“, die noch an demselben Tag vom Amtsgericht angeordnet wurden (Abbildung und Legende in der .pdf). Allein der Bereich Großenhainer Straße 93, das „Haus der Begegnung“, die Dresdner Geschäftsstelle der Linken, wurde am 18 und 19. Februar zwei volle Tage lang überwacht. Das Landeskriminalamt hat dort 152 sogenannte «stille SMS» versandt, die ohne Kenntnis des Überwachten der Polizei dessen Standort melden. Schließlich setzte sie dort einen IMSI-Catcher ein. Erfasst wurden zunächst insgesamt 850.591 Verkehrsdaten und 40.731 Bestandsdaten. Die Telekommunikationsverbindungsdaten (Verkehrsdaten) legen offen, wann welche Kommunikationsgeräte zu einem bestimmten Zeitpunkt von einem bestimmten Ort aus miteinander kommuniziert haben. Allerdings schwankt die Reichweite der Sendemasten, so dass es durchaus möglich ist, dass Verkehrsdaten aus anderen Orten übermittelt werden. Der Inhalt der Kommunikation wird nicht erfasst.

2. Zusammenführung der Daten
Die Verkehrsdatenerhebung ist der erste Schritt, dem die Zusammenführung mit anderen Datenbeständen und eine Auswertung folgt. Das LKA führte die am 19. Februar erhobenen Daten „mit weiteren aufgrund anderer Beschlüsse erhobenen Daten zusammen, um verdachtsbezogene Analysen … durchzuführen.“ Zudem erhielt die Soko am 9.6.2011 auf Anordnung der Staatsanwaltschaft den Datenbestand des LKA, da Tatverdächtige im Ermittlungsverfahren gegen die „kriminelle Vereinigung“ „auch als Tatverdächtige in den Fällen des schweren Landfriedensbruchs … in Frage kommen“. Dabei wurden rechtswidrig auch Bestandsdaten, also Klarnamen und Adressen, übermittelt. Die Zusammenführungen wie die Erfassung der Verkehrsdaten zweier vollständiger Tage am Haus der Begegnung zeigen, dass nach Ansicht des LKA die Organisatoren des Bündnisses „Dresden Nazifrei“ Mitglieder einer „kriminellen Vereinigung“ seien, gegen die seit April 2010 ermittelt wird. Der Datenschutzbeauftragte kritisiert, dass durch die Zusammenführung von Datenbeständen die zeitlichen und räumlichen Begrenzungen wie Verhältnismäßigkeitsprüfungen jeder einzelnen Funkzellenabfrage leerlaufen.

3. Elektronische Auswertung der Verkehrsdaten
Die Auswertung der riesigen Datenmengen erfolgt mit dem „elektronischen Fallanalysesystem eFAS“, dass das LKA Ende 2008 für gut 3 Mio Euro bei der Firma rola Security Solutions erworben hatte. Generalstaatsanwalt Fleischmann begründete die „Handy-Abfrage“ mit dem Ziel „festzustellen, wie über Telefonate die Krawalle gesteuert wurden. Wir wollen nur wissen, welche Personen sich an mehreren Tatorten, an denen es zum Landfriedensbruch kam, aufgehalten haben“. Der Gemeinsame Bericht versichert: „Eine Verarbeitung der Verkehrsdaten mit dem Ziel Bewegungsbilder zu erstellen, erfolgte nicht“. Der Wahrheit näher kommen dürfte Constanze Kurz vom Chaos Computer Club: „Per Rasterfahndungsmausklick … werden aus den Protokollen jeder Telefonbewegung, jedes Anrufs, jeder SMS visuell aufbereitete Diagramme der Beziehungsgeflechte der Opposition gegen Rechtsradikale.“

Die Auswertung massenhafter Verkehrsdaten ist alles andere als harmlos. Bereits die Überwachung von 8 % einer Gruppe reichen aus, um Feststellungen über deren Sozialstrukturen zu treffen. Das Bundesverfassungsgericht stellt in seiner Entscheidung zur Vorratsdatenspeicherung fest: „Die Aussagekraft dieser Daten ist weitreichend … Adressaten …, Daten, Uhrzeit und Ort erlauben, wenn sie über einen längeren Zeitraum beobachtet werden, in ihrer Kombination detaillierte Aussagen zu gesellschaftlichen oder politischen Zugehörigkeiten sowie persönlichen Vorlieben, Neigungen und Schwächen derjenigen, deren Verbindungsdaten ausgewertet werden. … Je nach Nutzung der Telekommunikation und künftig in zunehmender Dichte kann eine solche Speicherung die Erstellung aussagekräftiger Persönlichkeits- und Bewegungsprofile praktisch jeden Bürgers ermöglichen. Bezogen auf Gruppen und Verbände erlauben die Daten … unter Umständen die Aufdeckung von internen Einflussstrukturen und Entscheidungsabläufen“.

4. Erhebung von Bestandsdaten

Die Polizei darf ohne jede weitere Hürde die Bestandsdaten des Kunden beim Anbieter abfragen, also Name, Vorname, Wohnanschrift und Geburtsdatum. Die Bestandsdatenabfrage ordnet anonyme Verkehrsdaten einer bestimmten Person zu. Innen- und Justizminister hatten noch am 24. Juni 2011 versichert, dass nicht die Absicht bestehe, „zu allen erhobenen Verkehrsdatensätzen die Bestandsdaten (u.a. Anschlussinhaber) festzustellen“. LKA und Soko 19/2 setzen die Verkehrs- und Bestandsdatenabfrage aber bis heute ungerührt fort. Mit Stand vom 14.2.2012 hatte das LKA fast 30.000 Verkehrsdaten mehr (923.167) erhoben als im Juni 2011 bekannt gegeben und daraus weitere ca. 14.000 Bestandsdaten, insgesamt 55.499, ermittelt. Auch die Soko 19/2 steigerte die erhobenen Verkehrsdaten um ca. 15.000 auf 153.266 und erhob bis zum 30.1.2012 542 Bestandsdaten.

5. Verwendung der Daten
Polizei und Staatsanwaltschaft versichern, dass die erhobenen Verkehrs- und Bestandsdaten nicht in die allgemeine polizeiliche Vorgangsdatei IVO einfließen oder zur Gefahrenabwehr verwendet würden. Funkzellenauswertungen wurden in 44 Fällen vorgenommen, um Platzbesetzer an der Kreuzung Löfflerstraße / Reichenbachstraße einer Straftat zu überführen. Allerdings erkannte die Staatsanwaltschaft Dresden schon vor der Veröffentlichung der «taz», dass diese Verwendung rechtswidrig ist. Dennoch hält die Polizei diese weiterhin für „zumindest rechtlich vertretbar“, da die Verhinderung genehmigter Versammlungen „nicht unterhalb des Bereichs mittlerer Kriminalität“ einzuordnen sei. Die Verkehrsdaten werden auch in Verfahren wegen Sachbeschädigung, Beleidigung und Verwendung verfassungswidriger Kennzeichen verwendet. Bisher ist es in den seit April 2010 laufenden Verfahren gegen die angebliche kriminelle Vereinigung trotz zahlreicher Funkzellenauswertungen und Datenverknüpfungen zu keinen Anklagen gekommen.

6. Verweigerung von Benachrichtigung und Auskunft
Heimliche Ermittlungsmaßnahmen sollen nach der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechungden Betroffenen wenigstens nachträglich bekannt gegeben werden, um diesen die Einleitung einer Rechtskontrolle zu ermöglichen. Der Datenschutzbeauftragte forderte Anfang September 2011 die Benachrichtigung der bekannten Betroffenen.

Bis Sommer 2012 wurden allerdings nur 53 Personen nach § 101 Abs. 4 StPO von der Erfassung ihrer Verkehrsdaten benachrichtigt. Am 16.2. 2012 hatte die Staatsanwaltschaft angeordnet, dass die Benachrichtigung gemäß § 101 Abs. 4 Ziff. 3 und 6 StPO unterbleibt, „soweit Personen betroffen waren, gegen die sich die Maßnahmen nicht richteten. Es ist anzunehmen, dass diese Personen kein Interesse an der Benachrichtigung haben.“ Auch Personen, deren Klarnamen und Adresse (Bestandsdaten) ermittelt wurden, werden nicht benachrichtigt. Angesichts des erheblichen Aufsehens und der zahlreichen Auskunftsanträge ist die Unterstellung mangelnden Interesses fernliegend und böswillig. Offensichtliches Ziel der Staatsanwaltschaft ist es, Rechtsschutzanträge der Betroffenen zu verhindern.

Bis Juni 2012 haben 721 Personen bei der Staatsanwaltschaft und 801 Personen bei der Polizei Auskunftsanträge zur Erfassung ihrer Daten gestellt. Die Dresdner Ermittlungsbehörden lassen die Auskunftsansprüche ins Leere laufen. Zunächst verschob die Staatsanwaltschaft die Auskunftserteilung bei 490 Menschen nach § 491 StPO für 6 Monate, da Ermittlungen gefährdet würden. Obwohl die sechsmonatige Aufschubsfrist seit langem abgelaufen ist, werden Auskünfte faktisch nicht erteilt. Das Landeskriminalamt habe bisher 156 Auskunftsanträge beantwortet. Das Amtsgericht hat erst nach einem Jahr begonnen, Beschwerden gegen die Funkzellenabfragen zu bearbeiten.

7. Die Funkzellenauswertung als Standardmaßnahme
Eine offene Frage ist die Häufigkeit des Einsatzes der Verkehrsdatenabfrage. Die erst seit 2008 beim Bundesjustizministerium geführte Statistik weist zwar einen Rückgang der Erstanordnungen aus (2008: 666, 2009: 644, 2010: 437). Allerdings sagen diese weder etwas über die Anzahl der erhobenen Verkehrsdaten und betroffenen Personen, noch unterscheidet die Statistik zwischen individualisierten und nicht-individualisierten Verkehrsdatenabfragen. Unbekannt ist auch die Zahl der gerichtlich abgelehnten Abfrageanträge. Die Staatsregierung verweigert dem Landtag die Auskunft über den Umfang von Funkzellenabfragen sächsischer Ermittlungsbehörden. Abfrage und Auswertung von Kommunikationsverbindungsdaten sind aber keine seltene Ausnahme.

Allein die Staatsanwaltschaft Dresden hat 2010 in 90 Ermittlungsverfahren „Erhebungen nach § 100g“ beantragt. Das LKA fragte zur Aufklärung des Brandanschlags vom 12.4.2009 auf die Albertstadtkaserne in Dresden 1.120.535 Verbindungsdaten in der Dresdner Neustadt ab. Offenbar hat das LKA auch Funkzellenabfragen zu sämtlichen 17 Tatorten und Tatzeiten der Überfälle der „kriminellen Vereinigung“ anordnen lassen. Angeblich soll die Erhebung rund um den 19.2.2011 die einzige anläßlich von Demonstrationen gewesen sein. Dennoch teilte die Staatsregierung wenig später mit, dass im Umfeld der Demonstrationen von Nazis und Gegnern am 17. Juni 2010 Verkehrsdaten erhoben wurden. Vieles spricht dafür, dass die nichtindividualisierte Funkzellenabfrage zur polizeilichen Standardmaßnahme geworden ist. Wer sich zufällig in der Nähe von Tatorten oder Geldautomaten, großen Menschenmengen bei Demonstrationen oder Fußballspielen aufhält, muss mit der Erfassung und Auswertung seiner Verkehrsdaten rechnen.

II . Die Selbstermächtigung der Dresdner Strafverfolgungsbehörden

Polizei, Staatsanwaltschaft, Amtsgericht sowie die Staatsregierung stützen die Dresdner Funkzellenabfrage und -auswertung auf § 100g Abs. 2 Satz 2 der Strafprozessordnung (StPO). Dabei verkennen sie die Reichweite der Grundrechte auf Kommunikationsfreiheit und informationelle Selbstbestimmung und daher die tatbestandlichen Eingrenzungen des § 100g. Letztlich basteln sie sich eine Ermächtigungsgrundlage außerhalb des Gesetzes für eine anlassbezogene massenhafte Verkehrsdatenerhebung und -auswertung gegen Unverdächtige.

1. Gesetzliche Regelung der Funkzellenabfrage
Gemäß § 100g Abs. 1 Satz 1 StPO können Verkehrsdaten einer bestimmten Person abgefragt werden, wenn „bestimmte Tatsachen den Verdacht (begründen), dass jemand … eine Straftat von auch im Einzelfall erheblicher Bedeutung … begangen hat, … soweit dies für die Erforschung des Sachverhalts oder die Ermittlung des Aufenthaltsorts des Beschuldigten erforderlich ist.“ Die Verkehrsdatenerhebung setzt also voraus, dass eine Person aufgrund anderer Tatsachen verdächtigt wird, eine Straftat begangen zu haben.

Ist die Telefonnummer des Verdächtigen unbekannt, ist bei einer „Straftat von erheblicher Bedeutung“ auch eine nicht-individualisierte Funkzellenabfrage zulässig, wenn „eine zeitlich und räumlich hinreichend bestimmte Bezeichnung der Telekomunikation“ vorgenommen wird. Die „Erforschung des Sachverhalts“ muss „auf andere Weise aussichtslos oder wesentlich erschwert“ sein (§ 100g Abs. 2 Satz 2 StPO). Auch sie darf sich nur gegen den Beschuldigten richten (§ 100g Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit § 100a Abs. 3 StPO), wenn der Beschuldigte aufgrund seiner örtlich-zeitlichen Kommunikations-Datenspuren bestimmbar ist. Daher kann das Kriterium der „räumlich und zeitlich hinreichend bestimmte(n) Bezeichnung der Kommunikation“ nur eng ausgelegt werden. Werden Verkehrsdaten zur Aufklärung einer bestimmten Tat an zu vielen Orte und für zu lange Zeiten abgefragt, gerät die Maßnahme zu einem anlassbezogenen Eingriff gegen Unverdächtige zur Erhebung von Daten zur weiteren Rasterung. Dieses enge Verständnis wird durch Gesetzestext und Willen des Gesetzgebers bestätigt: „Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist … insbesondere zu berücksichtigen, inwieweit dritte Personen von der Maßnahme betroffen werden. Die Maßnahme kann daher im Einzelfall aus Verhältnismäßigkeitsgründen zeitlich und örtlich weiter zu begrenzen sein oder muss unterbleiben, wenn eine solche Begrenzung nicht möglich ist oder das Ausmaß der Betroffenheit Dritter als unangemessen erscheint“.

2. Die Dresdner Funkzellenauswertung als Verdachtsschöpfungsinstrument

Tatsächlich findet in Dresden keine nicht-individualisierte Funkzellenabfrage im Sinne des Gesetzes, sondern eine anlassbezogene massenhafte Erhebung von Verkehrsdaten Unverdächtiger samt anschließender elektronischer Auswertung nach den Methoden der Rasterfahndung statt. Der Gemeinsame Bericht räumt ein, dass die Verkehrsdaten «noch keinen Tatverdacht» begründen, dazu seien „weitere kriminalistische Ermittlungen erforderlich (u.a. Abgleiche mit vorliegenden Ermittlungsergebnissen, vorliegenden Spuren usw.)“. Die Funkzellenabfrage richtet sich gegen eine unbestimmte Anzahl Unverdächtiger, denen nur „vorgeworfen“ werden kann, sich zu einer bestimmten Zeit in einer Funkzelle aufgehalten zu haben, von denen die Polizei glaubt, sie erfasse auch einen Tatort.

Die Verkehrsdatenerhebung greift in das Grundrecht auf Telekommunikationsfreiheit nach Art.10 des Grundgesetzes (GG) ein, da nicht nur Inhalte, sondern auch Umstände der Kommunikation geschützt sind. Die anschließende Auswertung greift in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung nach Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art.1 Abs. 1 GG ein. Soweit Menschen am 19. Februar von ihrem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit Gebrauch gemacht haben, ist auch Art. 8 GG betroffen. Schließlich greift die Verkehrsdatenauswertung auch in die Religionsfreiheit der Teilnehmerinnen und Teilnehmer der kirchlichen Mahnwachen nach Art. 4 GG ein.

Anlassbezogene Überwachungsmaßnahmen gegen zahlreiche Unverdächtige durch eine serielle Erfasssung und sekundenschnelle elektronische Verarbeitung und Zusammenführung mit anderen Datensammlungen gefährdet das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung in besonderer Weise: „Grundrechtseingriffe weisen dann eine hohe Eingriffsintensität auf, wenn sie sowohl durch Verdachtslosigkeit als auch durch eine hohe Streubreite gekennzeichnet sind, wenn also zahlreiche Personen in den Wirkungskreis einer Maßnahme einbezogen werden, die in keiner Beziehung zu einem konkreten Fehlverhalten stehen und dem Eingriff durch ihr Verhalten nicht veranlasst haben“.

Die Eingriffsintensität wird für Unverdächtige keineswegs gemindert, weil aus einer großen Datenmenge Verdächtige herausgefiltert werden sollen. „Auch dann, wenn die Erfassung eines größeren Datenbestandes letztlich nur Mittel zum Zweck für eine weitere Verkleinerung der Datenmenge ist, kann bereits in der Informationserhebung ein Eingriff liegen, soweit sie die Informationen für die Behörden verfügbar macht und die Basis für einen nachfolgenden Abgleich mit Suchkriterien bildet“.

Im Dresdner Fall ist die Eingriffsintensität erhöht, da „Informationen betroffen sind, bei deren Erlangung Vertraulichkeitserwartungen verletzt werden“. Denn die Heimlichkeit der Erhebung erhöht die Eingriffswirkung und mindert sie nicht, wie die Staatsanwaltschaft fabuliert.

3. Techniken der Grundrechtsaushebelung
Staatsregierung, Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht rechtfertigen die Funkzellenabfrage mit der Strafverfolgung „erheblicher Straftaten“ wie des Landfriedensbruchs. Die Staatsregierung ließ sich zudem die Rechtmäßigkeit der Funkzellenabfrage durch ein Gutachten des Berliner Rechtsprofessors Battis vom 13. September 2011 bestätigen.34 Tatsächlich ist der Landfriedensbruch nach § 125 Strafgesetzbuch eine in § 100a StPO aufgeführte Tat. Die Verteidiger der massenhaften Funkzellenauswertung verzichten auf eine folgerichtige Prüfung der gesetzlichen Kriterien und betonen die Schwere der Taten des Landfriedensbruchs und der Taten der unterstellten kriminellen Vereinigung, wogegen die Anzahl der unverdächtig Betroffenen nicht vorgebracht werden könne. Stattdessen appelliert Oberstaatsanwalt Avenarius suggestiv an den „gesunden Menschenverstand“, es könne doch keinen Unterschied für die Zulässigkeit einer Funkzellenabfrage machen, ob ein Mord in einer einsamen Gegend oder einer belebten Innenstadt geschehe. Mit dieser Argumentation wird die gesetzlich maßgebliche Unterscheidung der räumlich-zeitlich bestimmbaren Kommunikation des Beschuldigten und der anlassbezogenen Erfassung vieler zu Rasterzwecken bewusst eingeebnet. Ermittlungsbehörden, Amtsgericht und Staatsregierung unterscheiden nicht zwischen den Voraussetzungen der individualisierten und nicht-individualisierten Funkzellenabfrage. So erkennt das Amtsgericht Dresden nicht, dass § 100g Abs. 1 StPO eine räumlich-zeitlich umschriebene Verkehrsdatenerhebung gar nicht erlaubt, sondern nur eine Erhebung der Verkehrsdaten des bekannten Beschuldigten oder Nachrichtenmittlers.

Eine räumlich-zeitliche Beschränkung wird nur formal vorgenommen. Zwar strich die Staatsanwaltschaft 10 von 37 Orten und Zeiten, die die Soko für eine Funkzellenabfrage „angeregt“ hatte. Es kommt aber nicht darauf an, dass überhaupt eine räumlich-zeitliche Begrenzung der Datenerhebung stattfindet, sondern dass nur die Kommunikation räumlich und zeitlich eng bestimmbarer Tatverdächtiger erhoben wird. Totalüberwachungen ganzer Straßenzüge, vielbesuchter Stadtteile zur Tageszeit und über viele Stunden hinweg bis zu zwei ganzen Tagen überschreiten diese Begrenzung eindeutig. Das Amtsgericht verkennt diesen Zusammenhang, wenn es lediglich ausführt, dass bei der Verkehrsdatenabfrage ja keine Kommunikationsinhalte erhoben würden. Der Eingriff wird durch den Umstand vertieft, dass die Provider offenbar nicht in der Lage sind, die Reichweite ihrer Sendemasten genau zu bestimmen. Auf diese Weise können die Verkehrsdaten zahlreicher Personen auch weit außerhalb der abgefragten Orte erfasst werden.

Polizei, Staatsanwaltschaft und Amtsgericht haben nicht erkennbar ernsthaft und nachvollziehbar abgewogen, dass eine sehr große Anzahl Unverdächtiger betroffen sein würde, wie es der Gesetzgeber verlangt. Die Strafprozessordnung unterwirft die nicht-individualisierte Funkzellenabfrage einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung. Die polizeiliche «Anregung» enthielt dazu nur formelhafte Begründungen. Stattdessen regte die Soko eine Funkzellenabfrage bereits am 22.2. zu einem Zeitpunkt an, in dem andere Erkenntnisse wie Videoaufzeichungen oder Zeugenberichte noch gar nicht ausgewertet sein konnten. Wenn der Gemeinsame Bericht meint, dass „eine möglichst rasche … Abfrage … im Interesse der Strafverfolgung“ liege, kennzeichnet dies zwar die Einstellung der Staatsregierung, die aber an den rechtlichen Voraussetzungen vorbeigeht.

4. Verletzung von Zeugnisverweigerungsrechten
Die Polizei hat die Verkehrsdaten vieler zeugnisverweigerungsberechtigter Personen wie von Ärzten, Rechtsanwältinnen, Journalisten oder Abgeordneten des Bundes oder der Länder erhoben. Soweit Daten von Journalistinnen erhoben wurden, handelt es sich zudem um einen Eingriff in das Redaktionsgeheimnis nach Art. 5 GG. Die Bundesregierung hält eine Funkzellenabfrage zu Gegenständen, über die Bundestagsabgeordnete das Zeugnis verweigern dürfen, nach § 160a Abs. 1 Satz 2 StPO für unzulässig. Die Strafverfolgungsbehörden argumentieren, dass ein Zeugnisverweigerungsrecht unwahrscheinlich betroffen sei, da zur Zeugnisverweigerung berechtigende Äußerungen kaum übers Handy weitergegeben würden. Diese Erwägung liegt neben der Sache. Das Zeugnisverweigerungsrecht umfasst allein schon den Umstand, dass eine Person Tatsachen anvertraut, sowie die Identität dieser Person. Abgeordnete, Journalisten und Rechtsanwälte waren am 19. Februar offensichtlich in Ausübung ihrer geschützten Berufstätigkeiten anwesend. Der Datenschutzbeauftragte hat keine Anhaltspunkte in den Akten zu der besonderen Verhältnismäßigkeitsprüfung nach § 160a Abs. 2 StPO gefunden. Die Verkehrsdatenabfrage gegen die Berufsgeheimnisträger war unzulässig, da sich die Maßnahme auch gegen sie gerichtet hat.

5. Verkennung der gesellschaftspolitischen Dimension massenhafter Eingriffe
Die massenhafte Erfassung und Auswertung persönlicher Daten im Rahmen von Handygate ist geeignet, das Vertrauen in Rechtstaat und Demokratie zu erschüttern. Ermittlungsbehörden und Staatsregierung verkennen generell die gesellschaftspolitischen Dimension. Sie behaupten allen Ernstes, ein Einschüchterungseffekt auf friedlich Demonstrierende sei schon deshalb nicht vorstellbar, weil diese am 19. Februar nichts davon gewusst hätten! Das Bundesverfassungsgericht hat stets die konstitutive Bedeutung des Versammlungsrechts und des Vertrauens auf die Vertraulichkeit der elektronischen Kommunikation für eine freiheitliche Gesellschaft hervorgehoben. Der Sächsische Verfassungsgerichtshof betont, dass das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung und „die Selbstbestimmung des Einzelnen elementare Funktionsbedingung eines freiheitlich-demokratischen Gemeinwesens“ sei.

III . Der Datenschutzbeauftragte im Fadenkreuz von Staatsregierung und Justiz
Der Datenschutzbeauftragte sah sich sofort nach der Veröffentlichung seines Berichts am 9. September 2011 ehrabschneidenden Angriffen der Staatsregierung und des Justizestablishments ausgesetzt, die darauf abzielten, seine Erkenntnisse als unzuständig und unfachlich zu delegitimieren, die Justizentscheidungen außerhalb jeder Kritik zu stellen und die öffentliche Deutungshoheit über das Geschehen zurück zu gewinnen. Angesichts der zeitlichen Nähe und der handelnden Personen fällt es schwer, kein koordiniertes Vorgehen zu unterstellen. Die Schlammschlacht gegen Andreas Schurig ist symptomatisch für Funktionsweisen der „Sächsischen Demokratie“.

Die Staatsregierung kündigte bereits einen Tag vor Veröffentlichung des Datenschutzberichts die Vorlage eines Gutachtens des „renommierten Berliner Verfassungsrechtlers“ Ulrich Battis an, der Zuständigkeit und Kompetenz des Datenschutzbeauftragten in Zweifel ziehe. Battis und der Sächsische Richterverein wollen einen Eingriff in die richterliche Unabhängigkeit erkennen, da der Datenschützer Maßnahmen der Staatsanwaltschaft kritisiere, die ein Richter für zulässig erklärt hatte. Sogar der Präsident des OLG Dresden, Ulrich Hagenloch, meinte am 11.9.2011, dass das Vorgehen des Datenschützers «einen Eingriff in das verfassungsrechtliche Gewaltenteilungsprinzip dar (stelle). Seine „Verantwortung für die Dritte Staatsgewalt und meine Fürsorgepflicht gegenüber den Richtern gebiete(t)“ es, „Ihrem Einwirken in den justiziellen Kernbereich mit Entschiedenheit entgegenzutreten“. In einem Schreiben an den Datenschutzbeauftragten, dass er in Kopie dessen Dienstvorgesetzten, dem Landtagspräsidenten, schickte, forderte er unverhohlen eine Änderung des kritischen Datenschutzberichts: „Im Interesse eines konstruktiven Zusammenwirkens aller Staatsgewalten würde ich es begrüßen, wenn sie sich bereit finden könnten, Ihre Beanstandung und Ihren Bericht in einer Weise neu zu fassen, die dem Gewaltenteilungsprinzip Rechnung trägt“.

Den Tiefpunkt in der Kampagne gegen die Unabhängigkeit des Datenschutzbeauftragten setzte der vormalige Polizeipräsident, gewesene Innenstaatssekretär und amtierende Sächsische Generalstaatsanwalt, Klaus Fleischmann, der am 14.9. in einem Interview mit der Sächsischen Zeitung beim Datenschützer „letztlich die gebotene Objektivität“ vermisste: Herr Schurig bewege sich offensichtlich auf einem für ihn fremden Gebiet, für das er zudem gar nicht zuständig sei. Der Vorwurf rechtswidrigen Verhaltens der Polizei und Staatsanwaltschaft sei „für Juristen nicht nachvollziehbar“. Sein Vorgehen stelle „eine Missachtung des Richtervorbehalts dar.“ Mit seiner Rüge versuche er, „nicht nur in Sachsen, sondern praktisch bundesweit in die Tätigkeit der Justiz einzugreifen“. Der Datenschutzbeauftragte verwahrte sich zu Recht „gegen unseriöse Kritik, die meiner Behörde fachliche Inkompetenz unterstellt, oder gegen den Vorwurf, ich habe eigentlich die Richter treffen wollen.“ Gemäß Art. 57 der Sächsischen Verfassung sei der Datenschützer beauftragt, „die Exekutive, – also auch Polizei und Staatsanwaltschaft – lückenlos, unabhängig und weisungsfrei zu kontrollieren.“ Der Sächsische Datenschutzbeauftragte ist befugt, Maßnahmen auch während laufender Ermittlungsverfahren datenschutzrechtlich zu überprüfen. Der Landtag hat 2003 eine Gesetzesänderung zum Verbot solcher Kontrollen ausdrücklich abgelehnt.

Die Richterschaft verkennt Bedeutung und Reichweite des Richtervorbehalts. Eine Zulassungsentscheidung des Richters enthebt Polizei und Staatsanwaltschaft keineswegs von eigener rechtlicher Sorgfalt, noch legitimiert er Rechtsfehler. Art und Weise des Vollzugs einer Maßnahme liegen außerhalb der Reichweite der richterlichen Entscheidung. Die Richter verkennen, dass ihre Entscheidungen auch sonst nicht dem öffentlichen Meinungsstreit entzogen sind und die viel bemühte richterliche Unabhängigkeit nicht dagegen immunisiert.

IV. Fazit
2010 war es Tausenden von Demonstrierenden gelungen, den Aufmarsch der Neonazis am Neustädter Bahnhof festzunageln. Die Polizei war vor dem Februar 2011 aus dem Innenministerium veranlasst worden, diese von Polizeiführung und Staatsregierung empfundene „Scharte“ auszuwetzen. Diesmal sollte die Polizei zeigen, wer „Herr im Hause“ ist. Das polizeiliche Einsatzkonzept teilte die Stadt an der Elblinie, um eine exklusive Nazizone auf der Altstädter Seite zu schaffen. Den Nazigegnern wurde eine Pseudo-Demonstrationszone auf der anderen Elbseite zugewiesen und so das Grundrecht auf Protest in Sicht- und Hörweite polizeitaktischen Erwägungen geopfert. Dieses auf Eskalation angelegte Trennungskonzept scheiterte am 19. Februar, wurde aber gleichwohl mit der massenhaften Erfassung und Auswertung der Verkehrsdaten bruchlos fortgesetzt. Die Soko setzte rechtswidrig – bevor überhaupt irgendein anderes Ermittlungsmittel versucht worden war – auf die scheinbare Allzweckwaffe einer Auswertung elektronischer Kommunikationsdaten.

Im Grunde hielt die Polizeiführung alle Personen innerhalb der exklusiven Nazizone für Gewalttäter und die Auswertung ihrer Datenspuren für gerechtfertigt. Dies beweisen die Rechtfertigungsversuche, die im Bericht des Datenschutzbeauftragten referiert werden. Das Landeskriminalamt begründete mit der Gleichsetzung der seit 2010 verfolgten kriminellen Vereinigung mit den Organisatoren des Bündnisses Dresden Nazifrei und den Tätern der Landfriedensbrüche in der Altstädter Nazizone eine weit umfangreichere, zweite Funkzellenabfrage. Sie war offensichtlich allein auf die Auskundschaftung als kriminell unterstellter sozialer Netzwerke gerichtet, wie die zehntausendfache Erhebung von Klarnamen und Adressen zeigt.

Nach dem 19. Februar 2011 führte die unterschiedslose Kriminalisierung aller Nazigegner auch bei den zuständigen Kontrollinstanzen zu juristischer Blindheit und willfährigem Versagen. Staatsanwaltschaft und Amtsgericht haben die polizeilichen «Anregungen» einfach abgezeichnet. Je vehementer die Richterschaft auf die Üblichkeit und Zulässigkeit dieses Verfahrens pocht, desto mehr verspielt sie Vertrauen der Öffentlichkeit. Offenbar ist hier eine Mentalität der Staatsanwälte und Ermittlungsrichter am Werke, die sich nicht als Schutzschild der Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger, sondern als Türöffner für polizeiliche Ermittlungsanliegen versteht. Die Selbstkorrekturfähigkeit des Apparats erscheint verkümmert. Bis heute erscheinen die Beteiligten in einem reflexhaften Korpsgeist befangen und verweigern sich der Erkenntnis, dass die Vielzahl der Orte und die Dauer der Zeiten die gesetzliche Ermächtigung zur nicht-individualisierten Funkzellenabfrage gegen den bestimmbaren Beschuldigten sprengt und zur allein anlassbezogenen Erfassung und Rasterung Unverdächtiger macht. Es ist empörend, wie die Ermittlungsbehörden die wenigen Rechte Betroffenener auf Benachrichtigung oder Auskunfterteilung verweigern oder das Amtsgericht die Bearbeitung von Beschwerden verzögert. Recht und Gesetz scheinen nur noch als unverbindliche Handlungsempfehlung, als lästige Begrenzungen dessen empfunden zu werden, was eigentlich für richtig gehalten wird.

Oberstaatsanwalt Avenarius und Generalstaatsanwalt Fleischmann wollen der Öffentlichkeit erklären, dass die Datenauswertung ein selbstverständlicher Vorgang sei, den der rechtstreue Bürger klaglos über sich ergehen lassen solle, wenn er sich nicht dem Vorwurf heimlicher Komplizenschaft aussetzen wolle. Wer wie der Datenschutzbeauftragte die Aussicht hat, in der Öffentlichkeit als Gegenstimme Gehör zu finden, wird wüst angegriffen und bedroht. Der Bürger wird vom ermittelnden Staat unfreiwillig in Dienst genommen und freie Grundrechtsausübung unter Verdacht gestellt. Bürgerinnen und Bürger, die sich gegen Rechts engagieren, werden eingeschüchtert, die Entfaltung einer offenen Gesellschaft, die ihre Freiheit selbstbewusst nutzt, behindert. So ist die politische und rechtliche Auseinandersetzung mit den Eigenheiten „sächsischer Demokratie“ im Rahmen von „Handygate“ auch ein Kampf für eine offene Zivilgesellschaft, die sich von polizeilichen und ermittlungstaktischen Zwängen befreit und ihre Grundrechte als Konstitionsbedingung einer wirkungsvollen Demokratie selbstbewusst nutzt. Dies ist trotz aller Repressionen vor und nach dem 19. Februar 2011 ein Stück weit gelungen.

Hier findet Ihr eine Übersicht der Aktivitäten von Johannes Lichdi in Sachen #Handygate. Hier findet Ihr eine Übersicht zu den Aktivitäten der grünen Bundestagsfraktion in Sachen (Dresdner) Funkzellenabfrage(n). Hier eine Version des Aufsatzes mit sämtlichen Quellenangaben (pdf, 710 KB).

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