Ein ganzes Bündel von Skandalen rund um die Datensicherheit sorgte in den vergangenen Monaten für Wirbel und bescherte der innen- und rechtspolitischen Debatte einige Höhepunkte. Im Kern geht es dabei um den Erhalt unserer Grundrechte und damit unserer Freiheiten. Das Recht auf Selbstbestimmung ist in Gefahr. Betroffen sind wir alle. In einem aktuellen Beitrag für die „Profil:Grün“, die Zeitschrift der Grünen Bundestagsfraktion, habe ich mir einige Gedanken über die Freiheit im Digitalen und was wir für ihren Schutz tun müssen gemacht. Wie immer gilt: Über Eure Kommentare und Anregungen freue ich mich.
Sie hat nichts zu verbergen, denkt Erika Musterfrau. Was sollte es sie stören, dass ihr Strom-, Heizungs- und Wasserverbrauch demnächst automatisch an unterschiedlichste Dienstleister übertragen wird? Mit einer Genauigkeit, die sogar Rückschlüsse auf ihren Fernsehkonsum zulässt. Dass ihr elektronischer Buchhändler nicht nur weiß, welche Literatur sie kauft, sondern auch ziemlich genau vorhersagen kann, welches Buch sie als nächstes kaufen könnte? Dass ihre Bank jede ihrer kleinen Konsumsünden nachvollziehen kann und ebenso, wo sie zum Ausgleich spendet. Dass die Daten ihrer behandelten Krankheiten – ihre Cholesterinwerte, Blutdruck, ihre Psychotherapie – demnächst in der elektronischen Patientenakte zentral gesammelt und über die Gesundheitskarte zugänglich sind?
Es stört sie eben doch, denn was hier im Gang ist, hat längst eine Grenze überschritten. Anhand ihrer Handyortungsdaten ist jederzeit nachvollziehbar, wo sie unterwegs ist. Ihr Internetprovider kennt ihre Interessen und Vorlieben. Und auf dem Gelände der Deutschen Bahn wird jede ihrer Bewegungen per Video erfasst. Sie kann sich dieser ausufernden Datensammelei kaum entziehen. Soll sie sich eine neue Wohnung suchen, bloß weil ihre Vermieterin die Heizdaten zur schnelleren Abwicklung elektronisch erhebt – zumal das in anderen Mietshäusern auch zunehmend üblich ist? Auch der Kreditkartenmarkt ist überschaubar und lässt ihr wenig Wahlfreiheit. Im Job muss sie erreichbar sein und kann nicht mehrmals täglich den Akku aus ihrem Handy entfernen. Und Auto fahren ist in den mit Digitaltechnik vollgestopften neuen Modellen auch keine Privatsache mehr.
Überwachung nimmt Freiheit
Mit all diesen gesammelten Daten lässt sich ein nahezu komplettes Bild von ihr erstellen. Gegen ihren Willen entsteht ein übermächtiges Datenbild. Nur eine der Folgen: Ihr Online-Händler schlägt ihr Bücher der immer gleichen Sorte vor. Ihre Suchanfragen im Internet zeigen Ergebnisse innerhalb eines projizierten mentalen Tellerrands. Erst nervt es sie vielleicht nur, auf diese Daten reduziert zu werden. Dann aber stellt sie fest, dass sie aufgrund dieses Bildes spürbare Nachteile hinnehmen muss. Die Schufa verneint ihre Kreditwürdigkeit und sie hat keine Ahnung warum – die Bewertungsalgorithmen für ihre Daten bleiben Betriebsgeheimnis. Am Arbeitsplatz scheitert ihre Bewerbung auf die Teamleitung, weil die Verantwortliche sich anhand ihrer Online-Freunde ein Bild von ihr macht – und keine „Führungspersönlichkeiten“ darunter findet. Und solange sie in diesem „wirtschaftsschwachen“ Stadtteil wohnt – an der Postleitzahl zu erkennen -, bietet man ihr nur teure Mobilfunkverträge an.
Das ist Big Data: Wenn die Vielzahl von Daten, die von uns allen erhoben werden, miteinander kombiniert, statistisch ausgewertet und dann für Bewertungen einer Person zusammengesetzt werden: gute Kundin/schlechte Kundin, Risikopatientin oder gleich: Risikofaktor. Es sind aber ihre Daten, findet Erika Mustermann. Und dass es ihr gutes Recht ist, selbst über sie zu bestimmen. und: Sie will nicht ständig Zuordnungen in irgendwelche Schubladen ausgesetzt sein. Egal ob diese stimmen oder nicht: sind sie einmal in der Welt haben sie Folgen. Und deshalb muss sie von sich aus dagegen tätig werden, sich rechtfertigen, wenn sie keine Nachteile erleiden will.
Zwang zur Konformität
Schließlich wirkt dieses künstlich geschaffene Bild von Erika Musterfrau mit voller Wucht auf sie zurück. Zu den eifrigsten Datensammlern gehören Staaten wie auch kommerzielle Internet-Anbieter. Ein paar Klicks reichen, um das gesamte Verhalten, nicht nur die Konsumgewohnheiten, vorherzusagen. Erika selbst kann das Ausmaß nicht erkennen, es bleibt Dienst- beziehungsweise Geschäftsgeheimnis. Dieses Szenario, so befremdlich es vielleicht noch erscheint, ist weit weniger Zukunftsmusik als man denkt: Längst arbeiten europäische Forscherteams an Programmen, die Überwachungsvideos im öffentlichen Raum automatisch auswerten, um Kriminelle anhand von „abnormalem“ Verhalten zu identifizieren. Im Visier der Kameras sind wir alle. Und so fragt sich Erika Musterfrau: Ist es schon „abnorm“, schnell zu rennen oder lange zu sitzen? Gibt es überhaupt noch unüberwachten öffentlichen Raum? Sie will nicht vom Raster der automatisierten Fahndung erfasst werden, also passt sie sich in vorauseilendem Gehorsam der vermuteten Norm an. Eine Konformität, die sie stört.
Die Wahl hat sie auch bei ihrem neuen Auto nicht. Sicher, sie bestimmt Marke und Klasse, Ausstattung und Farbe. Doch so oder so – der neue Wagen ist in der Lage, Bewegungs- und Handlungsprofile zu erheben, zu speichern und an die unterschiedlichsten Stellen weiterzuleiten: Wann sie wie oft wohin fährt, ob ihr Fahrverhalten aggressiv oder zurückgenommen anmutet, welche Musik sie hört. Ihre Versicherung testet bereits den Telematiktarif: Wenn sie ihren Fahrstil elektronisch überwachen lässt, muss sie weniger zahlen. Immerhin: Sie kann wählen. Kann sie? Gewisse Grunddaten erheben Neuwagen schon heute standardmäßig. Einige Fahrzeuge zum Beispiel, ob sie vor dem Unfall eine Kaffeepause gebraucht hätte und ob sie tatsächlich eine eingelegt hat. Ist sie angesichts dieser technischen Zwangsjacke frei in ihrem Willen und selbstbestimmt?
Verteidigen wir die Demokratie!
„Ein Mensch unter Beobachtung ist niemals frei; und eine Gesellschaft unter ständiger Beobachtung ist keine Demokratie mehr.“ So haben es die 562 Schriftstellerinnen und Schriftsteller in ihrem Appell zusammengefasst, den die grüne Bundestagsfraktion im Februar in den Bundestag eingebracht hat. Unsere Demokratie fußt auf der Selbstbestimmung der Menschen, die Grundrechte (Art.1-19 Grundgesetz) garantieren sie: So das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit und das Recht, seine Meinung (…) frei zu äußern. Das Briefgeheimnis gehört ebenso dazu wie das Post- und Fernmeldegeheimnis oder die Unverletzlichkeit der Wohnung.
Dass die Digitalisierung unseres Lebens und Wirtschaftens auch unglaubliche neue Möglichkeiten bringt, sehen wir Grüne durchaus. Ein Beispiel ist etwa die Einsparung von Emissionen im Stockholmer Verkehr, ermöglicht durch die Erhebung und Vernetzung differenzierter Informationen und Datenbestände. Es gibt andere positive Entwicklungen. Dank digitaler Technik wie intelligenter Wärmeregler lässt sich der Ressourcenverbrauch senken. Eine individualisierte, schonendere Medizin ist möglich. Neue Wirtschaften entstehen wie etwa die Open Source-Bewegung, wo statt kommerzieller Interessen im Vordergrund steht, Wissen zu teilen und dadurch weiterzuentwickeln – frei nutzbare Software ist ein Beispiel dafür. Bei alledem bleiben das Recht auf Privatheit und das Recht auf Selbstbestimmung als Anspruch unseres Grundgesetzes bestehen; diese Grundrechte dürfen nicht durch neue Technologien ausgehöhlt werden. Wir Grüne wollen gerade, dass sie auch angesichts der neuen digitalisierten Möglichkeiten Bestand haben und von Staats wegen garantiert bleiben. Das ist eine aufwändige und alles andere als leichte Aufgabe. Wir Grüne im Bundestag arbeiten daran.
Grundrechte durchsetzen, bestehende Gesetze anpassen, neue Regelungen schaffen
Geheimdienste diverser Staaten verletzten unsere Grundrechte permanent: Der US-amerikanische National Security Service (NSA) zapft im großen Stil den E-Mailverkehr an. Der britische Geheimdienst GCHQ arbeitet gar gezielt daran, den Ruf Einzelner aktiv zu schädigen – zum Beispiel durch Falschmeldungen in sozialen Netzwerken. Grundrechte sicherzustellen bedeutet also nach wie vor, auch gegen Demokratie gefährdende staatliche Überwachung vorzugehen. Das muss auf europäischer und internationaler Ebene ebenso wie durch bilaterale Abkommen geschehen. Sicherheit zu gewährleisten ist eine wichtige staatliche Aufgabe. Doch sie muss ins richtige Verhältnis zu den Persönlichkeitsrechten des Einzelnen gebracht werden. Auch nationale Maßnahmen sind deshalb gefragt. Mit der flächendeckenden Überwachung und Analyse aller Lebensbereiche verändert sich das Verhältnis zwischen staatlichen Institutionen und den Bürgerinnen und Bürgern: Während auf der einen Seite angesichts unüberschaubarer Datenströme die Ohnmacht wächst, gewinnen auf der anderen Seite Behörden und Unternehmen immer neue Einsichtsmöglichkeiten. Um die Grundrechte hier gewährleisten zu können, müssen bestehende gesetzliche Regelungen laufend überarbeitet und im Sinne des selbstbestimmten Individuums an die neuen Anforderungen des digitalen Zeitalters angepasst werden. Ein „Update“ selbst des ehrwürdigen Grundgesetzes erscheint vor diesem Hintergrund sinnvoll.
Im privatwirtschaftlichen Bereich hinken die Reformen noch weiter hinterher. Tatsächlich bestimmen einige wenige, den Markt beherrschende IT- und Internetanbieter die Bedingungen ihrer Datenerhebung und -verwertung. Sie verdienen, geben ihren Nutzerinnen und Nutzern aber praktisch keine Mitspracherechte. Eine Kontrolle, ob die Datenerhebung an ihren ursprünglichen Zweck gebunden und inwieweit sie überhaupt erforderlich ist, findet nicht statt. Da sind neue, innovative Regelungsansätze erforderlich – wenn das Prinzip der Selbstbestimmung nicht den Bach heruntergehen soll. Die großen Hoffnungen auf eine umfassende EU-Reformgesetzgebung haben sich vorerst zerschlagen. Hier müssen wir zügig weiterkämpfen, damit es sobald als möglich verbesserte EU-Standards gibt. Bis dahin müssen wir auch das Heft des Handelns auf nationaler Ebene wieder in die Hand nehmen. Die Anforderungen sind bekannt: Neben Reformen des klassischen Ordnungsrechts müssen vielfältige, auch freiwillige Anreizstrukturen treten, um das Eigeninteresse der Unternehmen zu wecken, zum Beispiel durch Gütesiegel. Und der Datenschutz muss verpflichtend bereits in die Technik selbst hineingewoben werden (Privacy by Design). Dafür machen wir Grüne im Bundestag uns stark.
Freiheit in der Digitalität ermöglichen
Freiheit heißt Alternativen haben. Deshalb will Erika Musterfrau nicht nur wissen, wer über welche ihrer Daten verfügt. Sie will Einblick in die Risikoalgorithmen, die über ihre Lebensbedingungen entscheiden. Sie will ihr Recht auf Auskunft, Korrektur oder Löschung ihrer Daten auch gegen internationale Unternehmen durchgesetzt wissen. Erika Mustermann will durchschauen, wie die neue digitale Welt ihr entgegentritt und funktioniert. Sie will als Bürgerin mitentscheiden, wie viel Überwachung erlaubt ist. Sie will erfahren, wie und warum grundlegende Entscheidungen über sie getroffen werden. Sie will verstehen, wie das öffentliche Leben geregelt ist, welchen Gesetzen die Beschaffung und Verwertung von personenbezogenen Daten unterliegt. Das möchte sie in einem politischen Diskurs zwischen freien Bürgerinnen und Bürgern ausgehandelt wissen. Und genau das wollen wir Grüne auch.
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