In unregelmäßigen Abständen berichten wir in unserer Rubrik “Aus den Ländern” über Initiativen, Veranstaltungen und Debatten aus dem Bereich Innen- und Netzpolitik in den Bundesländern. Heute freuen wir uns über einen Crosspost von Julia Reda. Julia sitzt für die Piraten im Europaparlament und bearbeitet als Mitglied und stellvertretende Vorsitzende der Fraktion der Grünen / Freie Europäische Allianz u.a. den Bereich des Urheberrechts und die hier anstehenden Reformen. Julia berichtet von der anhaltenden Blockade der deutschen Bundesregierung, die Rechte von blinden Menschen bezüglich des Zugangs zu Wissen anzuerkennen und den Vertrag von Marrakesch zu ratifizieren.

Von allem, was ich bisher in der Politik erlebt habe, ist das Gezerre um den Marrakesch-Vertrag das traurigste Kapitel. Die deutsche Bundesregierung spielt aktuell eine federführende Rolle dabei, Menschen mit Sehbehinderungen ohne guten Grund den dringend benötigten Zugang zu Wissen und Kultur zu versperren. In noch nie dagewesener Schärfe fordert das Europaparlament die Bundesregierung auf, ihre Blockadehaltung aufzugeben.

Der Marrakesch-Vertrag sichert Millionen Menschen Zugang zu Wissen

Laut Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen haben diese ein Grundrecht auf gleichberechtigten Zugang zu Information und Kultur. Allerdings werden in Europa nur fünf Prozent aller publizierten Bücher in einem Format verlegt, das für blinde Menschen und Menschen mit Sehbehinderungen zugänglich ist – etwa in Großschrift, Brailleschrift oder als Audiobuch.

In vielen Staaten erlauben Ausnahmen vom Urheberrecht unter bestimmten Umständen die Konvertierung von Büchern in solche Formate auch ohne gesonderte Erlaubnis der Rechteinhaber (häufig, wie auch in Deutschland, mit verpflichtender Vergütung) – aber weil diese Ausnahmen nicht international vereinheitlicht sind, ist vor allem der grenzüberschreitende Austausch schwierig.

Der Vertrag von Marrakesch soll das ändern. Doch seit dieses internationale Abkommen im Juni 2013 abgeschlossen wurde, wartet es nunmehr fast 3 Jahre lang auf seine Ratifizierung. Zwanzig der 79 Verhandlungspartner müssen den Vertrag ratifizieren, damit er in Kraft tritt. Bislang haben erst 13 Länder ratifiziert: Indien, El Salvador, die Vereinigten Arabischen Emirate, Uruguay, Mali, Paraguay, Singapur, Argentinien, Mexiko, die Mongolei, Südkorea, Australien und Brasilien. Die EU fehlt noch.

Die EU spielt auf zwei Arten eine Schlüsselrolle

1) Die Ratifzierung durch die EU ist einerseits wichtig, um das Inkrafttreten des Vertrages zu beschleunigen. Alleine in Europa allein würden 30 Millionen Menschen mit Sehbehinderungen dadurch bessere Ausbildungschancen und gesellschaftliche Teilhabe genießen.

2) Aber die Teilnahme der EU führt auch erst dazu, dass der Vertrag seine Wirkung richtig entfalten kann: Die Bücherknappheit trifft Menschen in Entwicklungsländern besonders hart, wo teilweise nur 1% der verfügbaren Literatur in barrierefreien Formaten vorliegt. Da es in der EU viele barrierefreie Bücher in Sprachen gibt, die weit über die EU hinaus gesprochen werden (insb. Englisch, Spanisch, Französisch), ist die Ratifizierung durch die EU für die weltweite gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Sehbehinderungen absolut unabdingbar. Wer heutzutage z.B. studiert, ist auf den Zugang zu englischsprachiger Literatur angewiesen. Blinde Studierende werden in ihrem Recht auf Bildung massiv eingeschränkt, solange das territoriale Urheberrecht dazu führt, dass ihnen den Zugang zu barrierefreier Literatur aus anderen Ländern verwehrt wird.

Lobbys kämpften erbittert gegen das Gemeinwohl

In den 5 Jahren Verhandlung, die zu dem Abkommen führten, mussten die NGOs – darunter KEI, die den Vertrag mitinitiierten – es mit dem geballten Widerstand von Verlagen und Patentinhabern aufnehmen. Deren Lobbys versuchten, das Abkommen zu blockieren – und sie haben es deutlich verwässert. Briefe von Lobbygruppen (pdf) zeigen, wie erbittert Rechteinhaber auch das kleinste Zugeständnis zum Schutz der Menschenrechte bekämpften. So argumentierte etwa die Intellectual Property Owners Association (pdf):

Es handle sich um eine inakzeptable „einseitige“ Begünstigung von Menschen mit Behinderungen ohne gleichzeitige Stärkung der Rechteinhaber. Freilich können sich Rechteinhaber bereits jetzt auf eine große Zahl internationaler Abkommen zu ihrem Schutz stützen — der Marrakesch-Vertrag ist das einzige, das die Rechte einer bestimmten Gruppe an Nutzer*innen stärkt. Sie befürchteten, hier würde einen Präzedenzfall geschaffen: Auf diesen Vertrag zum Schutz der Rechte marginalisierter Gruppen könnten weitere folgen, etwa um Menschen einen erschwinglichen Zugang zu – patentierten – lebensrettenden Medikamenten zu ermöglichen. Tatsächlich haben Patentrechtsreformen, für die sich James Love und Manon Ress von KEI einsetzen, bereits tausenden von Menschen das Leben gerettet. Die Industrie bezeichnet diesen Einsatz für Menschlichkeit und eine gemeinwohlorientierte Eingrenzung kapitalistischer Logik als eine „Bedrohung“ für ihre Profite.

In Folge des massiven Lobbyings wurden Gehörlose als mögliche Begünstigte des Marrakesch-Vertrages gestrichen. Zahlreiche Länder, europäische inbegriffen, mussten förmlich an den Verhandlungstisch gezerrt werden. In seinem Abschlussstatement zum Ende der Verhandlungen beklagte James Love die mangelnde Transparenz des Verhandlungsverlaufs. Seine Vermutung: Eine Veröffentlichung der Verhandlungspositionen hätte gezeigt, wie viele Regierungen sich aktiv gegen die Rechte von Menschen mit Behinderungen eingesetzt haben.

Deutschland verzögert immer noch

2013 wurde der Vertrag endlich abgeschlossen. Seitdem wird keine Regierung müde, die Wichtigkeit dieses Vertrages und seiner Ziele zu betonen und ihre volle Unterstützung zuzusagen – so auch die deutsche. In Kraft getreten ist er trotzdem noch nicht.

Eine Sperrminorität im Rat der Europäischen Union, angeführt von der deutschen Bundesregierung, blockiert die Ratifzierung. Ihr Argument: Der EU fehle die Kompetenz, die Ratifizierung für die gesamte Union vorzunehmen. Doch die juristischen Dienste der Kommission, des Parlaments und des Rates, genau wie die Mehrheit der Mitgliedstaaten, sehen das anders.

Um die Blockade durch die Bundesregierung zu überwinden, hat die Kommission die Frage nach der Kompetenz mittlerweile an den europäischen Gerichtshof verwiesen. Eine Entscheidung wird wahrscheinlich zu Gunsten der ausschließlichen EU-Kompetenz ausfallen, kann aber noch Monate dauern. Die Entscheidung ist, anders als zuweilen suggeriert, kein Präzedenzfall für die Zuständigkeit anderer internationaler Abkommen, die die EU aktuell verhandelt, wie TTIP, TISA etc. – deren Tragweite ist mit dem sehr speziellen Marrakesch-Vertrag nicht vergleichbar.

Wenn die Ratifizierung des Marrakeschvertrags nicht in die ausschließliche Kompetenz der EU fällt, muss sie jedes Land einzeln vornehmen. Dann würde es noch Jahre dauern, bis das Abkommen in der ganzen EU in Kraft wäre. Insbesondere der grenzüberschreitende Austausch von Büchern, der ein zentrales Element des Vertrags ist, würde dadurch auch nach dem Inkrafttreten auf Jahre verkompliziert. Teile der europäischen Bevölkerung wären auf unbestimmte Zeit von den Rechten, die der Vertrag für sie verwirklicht, ausgeschlossen.

EU-Parlament macht Druck

Wegen der anhaltenden Verzögerungen haben sich die World Blind Union und die European Blind Union in einer Petition an das Europaparlament gewandt. Heute stimmt das Parlament über eine Resolution ab, die die rasche Ratifizierung fordert. Dadurch wird der Druck auf die deutsche Bundesregierung und die anderen Mitgliedstaaten erhöht, ihre Blockadehaltung aufzugeben.

Es ist unhaltbar, einen Revierkampf über die Kompetenzen verschiedener Institutionen auf dem Rücken von Menschen mit Behinderungen auszutragen. Die Haltung der Bundesregierung hat einzig den Effekt, Menschen mit Sehbehinderungen vom Lesen abzuhalten. Es fehlt an politischem Willen, an dieser Ungerechtigkeit etwas zu ändern.

Es wird Zeit, dass wir öffentlich über die Rolle Deutschlands in diesem zermürbenden Prozess reden und dafür sorgen, dass die Verwertungsrechte einiger Weniger nicht länger den Menschenrechten von Millionen im Wege stehen.

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