Neben zahlreichen anderen Massenüberwachungsmaßnahmen beinhaltet der neue Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD auch das Ansinnen, einen sicherheitspolitischen Zombie wiederzubeleben: Die anlasslose Vorratsdatenspeicherung (von IP-Adressen und Portnummern). Ich halte die Maßnahme aus grundsätzlichen Gründen für eine sehr schlechte Idee. Die Gefahr, erneut vor Gericht zu scheitern, bleibt extrem hoch. An Beiträgen auf diesem Blog zum Thema mangelt es nicht. Für die deutsche Richterzeitung habe ich ein Contra zu den aktuellen Plänen von CDU, CSU und SPD verfasst. Das Pro stammt von meinem Kollegen Alexander Throm (CDU). Über Anregungen und Kritik zu meinen Gedanken freue ich mich, wie immer, sehr.
Ein Staat, der Informationen über alle Bürgerinnen und Bürger anlasslos speichern und sich potenziell nutzbar machen will, beschädigt die Idee einer liberalen, offenen Gesellschaft. Er beeinträchtigt nicht nur die Bürgerrechte des Einzelnen, „sondern auch das Gemeinwohl, weil Selbstbestimmung eine elementare Funktionsbedingung eines auf Handlungsfähigkeit und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger begründeten freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens ist.“ So das Bundesverfassungsgericht 1983 in seinem visionären Volkszählungsurteil. Oder um es mit dem großen Liberalen Gerhard Baum zu sagen: „Wir [die Bürgerinnen und Bürger] sind doch keine Risikofaktoren!“.
Wer in der DDR aufgewachsen ist, oder Urlaub in einem Land gemacht hat, dessen Regierung die eigene Bevölkerung als Risikofaktor sieht, kennt, was das BVerfG als „Gefühl ständigen Überwachtseins“ beschreibt. Nun ist die anlasslose Speicherung von IP-Adressen und Portnummern nicht das Ende des liberalen Rechtsstaats. Aber sie ist ein erheblicher Eingriff in die Freiheitsrechte aller Bürgerinnen und Bürger und sendet ein Signal: Der Staat traut euch nicht.
Wir streiten seit mehr als 15 Jahren über diese Fragen. Richtig ist: Das jüngste Urteil des EuGH hat die Tür einen Spalt weit aufgestoßen. Aber wenn der Staat in solch großem Stil in die Bürgerrechte eingreifen will, muss er darlegen, dass der Gewinn an Sicherheit diesen Eingriff rechtfertigt. Das kann er bis heute nicht, im Gegenteil: Das Max-Plank-Institut wies 2012 nach, dass die anlasslose Speicherung von Telekommunikationsdaten nicht zu höheren Aufklärungsquoten bei schweren Verbrechen führt. Heute steht die Verhältnismäßigkeit mehr denn je in Frage: Wer seine digitale Spur verschleiern will, schafft das mit minimalem Aufwand. Lohnt es sich, die Daten aller Menschen zu speichern, nur um die wenigen Kriminellen zu erwischen, die tatsächlich amateurhaft ohne VPN-Tunnel agieren?
Das Risiko, zum x-ten Mal vor Gericht zu scheitern, bleibt massiv. Selbst das BKA geht davon aus, dass die Erfolgsquote oberhalb einer Speicherdauer von zwei bis drei Wochen „nicht mehr signifikant“ ansteigt. Wie vor diesem Hintergrund die von der Bundesregierung geplante Speicherung für drei Monate mit der Vorgabe des EuGH, sie auf den absolut notwendigen Zeitraum zu begrenzen und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar sein soll, kann bis heute niemand erklären. Auch nicht, wie weitere Vorgaben des BVerfG, etwa zum Schutz von Berufsgeheimnisträgerinnen und -trägern, gewahrt werden sollen. Zudem bezog sich das Urteil des EuGH nicht auf die Speicherung von Port-Nummern, die sowohl Eingriffstiefe als auch Aufwand der Provider erheblich erhöht.
Als wären das nicht genug Argumente, das in jeder Hinsicht dünne Eis nicht zu betreten, gibt es mit dem Quick-Freeze-Verfahren eine grundrechtsschonende und effektive Alternative: Bei Verdacht eines schweren Verbrechens ordnet eine Richterin oder ein Richter an, dass die Kommunikationsdaten des Verdächtigten eingefroren werden. Es gibt Fälle, in denen die Provider die Daten für einen kurzen Zeitraum nicht ohnehin speichern. Sie sind aber extrem selten.
Man könnte also zu einer evidenzorientierten und grundrechtskonformen Politik zurückkehren, die den Praktikerinnen und Praktikern die notwendige Rechtssicherheit bietet – anstatt ohne echte Sicherheitsgewinne erneut sehr enge europa- und verfassungsrechtliche Grenzen aus Prinzip bis zum Äußersten (oder darüber hinaus) auszureizen. In Zeiten, in denen die Freiheit weltweit unter Beschuss steht, stünde das unserem Rechtsstaat gut zu Gesicht.
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Gut nachvollziehbare Kritik an der mMn. Symbolpolitik der neuen Merz-Regierung (oder sollte ich schon schwarz- rot-blauweisse Ampel sagen?)
Danke!