PRISM, TEMPORA und Co – in der Ausspähaffäre betreibt die Regierung Merkel Arbeitsverweigerung. CDU/CSU, aber auch die im aktuellen Spähskandal angeblich so um Aufklärung bemührte FDP, weigerten sich, gestern im Plenum des Bundestages über unseren Antrag „PRISM, TEMPORA und die Schutzverantwortung der Bundesregierung“ (pdf) zu debattieren. Wir hatten gestern bereits ausführlich über das Vorgehen von Schwarz-Gelb und unsere Kritik hieran berichtet.
Im Zuge der gestern stattgefundenen Geschäftsordnungs-Debatte hat Volker Beck als unser Parlamentarischer Geschäftsführer unser absolutes Unverständnis, angesichts der im Raum stehenden Vorwürfe diese öffentlich zu diskutieren, zum Ausdruck gebracht. Hier findet Ihr die Rede von Volker. An dieser Stelle dokumentieren wir zudem den Wortlaut des von uns erarbeiteten Antrags, über den gestern leider nicht debattiert werden konnte.
Deutscher Bundestag Drucksache 17/14676
17. Wahlperiode 02. 09. 2013
Antrag
der Abgeordneten Dr. Konstantin von Notz, Renate Künast, Volker Beck (Köln), Ingrid Hönlinger, Memet Kilic, Jerzy Montag, Tabea Rößner, Claudia Roth (Augsburg), Wolfgang Wieland, Josef Philip Winkler und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
PRISM, TEMPORA und die Schutzverantwortung der Bundesregierung
Der Bundestag wolle beschließen:
I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
- Es steht zur Überzeugung des Deutschen Bundestages fest: Geheimdienste der USA erfassen durch Zugriff auf Server in den USA zumindest von US-Unternehmen verdachtslos und flächendeckend auch rein innerdeutsche elektronische Kommunikationsvorgänge und werten sie zu unterschiedlichen geheimdienstlichen Zwecken aus. Gleiches betreibt Großbritannien über den Zugriff auf transatlantische Kabelstränge, die über sein Gebiet laufen.
- Dieser Tatbestand stellt nicht nur einen Angriff auf die Werteordnung des Grundgesetzes dar, sondern beeinträchtigt auch europäische (Grundrechts-)Verbürgungen.
- Die Bundesregierung hat diesen Tatbestand faktisch akzeptiert und ist insoweit nicht zum Schutz der Grundrechtsträgerinnen und -träger in Deutschland tätig geworden. Sie hat stattdessen die Affäre bereits mehrfach mit der Begründung für erledigt erklärt, dass die Maßnahmen der genannten Staaten nicht in Deutschland erfolgen.
- Hinsichtlich des bereits existierenden Menschenrechtsschutzes verkennt die Bundesregierung, dass Art. 17 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 (UN-Zivilpakt) bereits jetzt, unabhängig von der Möglichkeit der Präzisierung seines datenschutzrechtlichen Gehalts durch Zusatzabkommen, Schutz vor der flächendeckenden Erfassung und Rasterung digitaler Kommunikation gewährt.
- Es bestehen verfassungsrechtliche Pflichten der Bundesregierung, zum Schutz der Grundrechte (Kommunikation aller in Deutschland lebenden Menschen) und der Funktionsfähigkeit der deutschen Demokratie (Kommunikation aller in Deutschland lebenden Menschen, Kommunikation des deutschen Bundestages, seiner Fraktionen und Abgeordneten) möglichst wirksam tätig zu werden. Die Bundesregierung ist dagegen offenbar noch nicht einmal im Ansatz bereit, die Werteordnung des Grundgesetzes gegen Angriffe anderer Staaten nachhaltig zu verteidigen.
II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, alle gangbaren Schritte zu tun, um innerdeutsche Kommunikationsvorgänge vor menschenrechtswidrigen Übergriffen der USA und Großbritanniens zu schützen. Neben den bereits im Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vom 26. Juni 2013 (Bundestagsdrucksache 17/14146) genannten weiteren Maßnahmen sollte die Bundesregierung,
- sich umgehend für ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Großbritannien einsetzen und, falls die EU-Kommission nicht bereit ist, ein solches einzuleiten, selbst den Einsatz dieses auch ihr zur Verfügung stehenden Mittels erwägen,
- im EU-Ministerrat darauf hinwirken, dass die Europäische Union die laufenden Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen mit den USA (TTIP-Abkommen) bis zur weiteren Klärung der Vorwürfe aussetzt,
- im EU-Ministerrat ebenso darauf hinwirken, dass die Europäische Union das Safe-HarborAbkommen mit den USA aussetzt und im Einklang mit dem EU-Datenschutzrecht umgehend neu verhandelt, weil aufgrund der bekanntgewordenen geheimdienstlichen Zugriffe auf die Datenbestände privater Unternehmen kein vergleichbares Datenschutzniveau in den USA mehr zugrundegelegt werden kann,
- ein Verfahren vor dem UN-Menschenrechtsausschuss nach Art. 41 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte vom 19.Dezember 1966 gegen die USA einleiten.
III. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, den Whistleblower Edward Snowden, der mit seinen Hinweisen und Aussagen den Menschenrechten weltweit und in Deutschland einen großen Dienst erwiesen hat,
- aus humanitären Gründen und zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland hierzulande aufzunehmen,
- um damit auch Befragungen Snowdens zu ermöglichen, weil Deutschland zur weiteren Aufklärung auf zusätzliche Aussagen von ihm angewiesen ist; dies setzt voraus, dass Deutschland ihm Schutz gewährt.
Berlin, den 2. September 2013
Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion
Begründung
Zu I.
Zu 1
Die US-Regierung hat sowohl in eigenen Stellungnahmen, durch die Veröffentlichung einzelner Dokumente u.a. aus Gerichtsverfahren als auch im Rahmen von Anhörungen von Verantwortlichen der US-Regierung und des Geheimdienstes NSA durch Ausschüsse des Senats des US-Kongresses eingeräumt, mehrere auf die flächendeckende Erfassung angelegte Spionageprogramme zu Auslandsaufklärung zu betreiben und deren Fortsetzung nachträglich verteidigt. So erklärte etwa der Chef der NSA, General Keith Alexander auf Nachfrage zur Kritik der deutschen Öffentlichkeit an den Überwachungsprogrammen und zur Forderung nach mehr Transparenz am 18.07.2013: „Wir sagen ihnen nicht alles, was wir machen oder wie wir es machen – jetzt wissen sie es“.
Nach wie vor gibt es auch eine Reihe von Hinweisen, dass die USA aus ihren auf deutschem Boden befindlichen militärischen Anlagen oder diplomatischen Vertretungen heraus Abhör- und Spionagemaßnahmen gegen hier lebende Personen, Regierungseinrichtungen und hier ansässige Unternehmen durchführen.
Zu 2
Möglichst flächendeckende, vorsorgliche Speicherungen und Auswertungen der Kommunikation zu welchen Zwecken auch immer verbietet das Grundgesetz. Das Bundesverfassungsgericht verpflichtet in seinem Urteil vom 2. März 2010 zur Vorratsdatenspeicherung die Bundesrepublik zum Schutz vor derartigen Datensammlungen ausdrücklich: „Dass die Freiheitswahrnehmung der Bürger nicht total erfasst und registriert werden darf, gehört zur verfassungsrechtlichen Identität der Bundesrepublik Deutschland (vgl. zum grundgesetzlichen Identitätsvorbehalt BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 30. Juni 2009 – 2 BvE 2/08), für deren Wahrung sich die Bundesrepublik in europäischen und internationalen Zusammenhängen einsetzen muss.“
Unverhältnismäßige Überwachungen beinträchtigen stets auch das Gemeinwohl, weil die dadurch beeinträchtigte Selbstbestimmung eine elementare Funktionsbedingung eines auf Handlungsfähigkeit und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürgerinnen und Bürger begründeten freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens ist.
Art. 7 und 8 der Grundrechtecharta der EU, die die Achtung des Privat- und Familienlebens und den Schutz personenbezogener Daten gewährleisten, schließen ebenfalls flächendeckende und unterschiedslose präventive Erfassungen sowohl von Inhalts- als auch Verkehrsdaten aus.
Zu 3.
Die Bundesregierung hat bis heute keine wirksamen Maßnahmen zum Schutz der Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger und zum Schutz der Interessen der Bundesrepublik Deutschland ergriffen. Auch der bislang vorgelegte sog. Fortschrittsbericht vom 14. August 2013 bietet diesen Schutz nicht. Denn sämtlichen Maßnahmen mangelt es entweder an praktischer Relevanz (so etwa die Aufhebung von Verwaltungsvereinbarungen mit den USA, Großbritannien und Frankreich zur Kommunikationsüberwachung aus dem Jahr 1968, die nach eigenen Angaben der Bundesregierung seit 1990 keine Anwendung mehr finden) oder betreffen Vorhaben, die für den Fall ihrer erfolgreichen Realisierung allenfalls Schutzwirkungen in der ferneren Zukunft entfalten könnten (VN-Vereinbarung zum Datenschutz, Datenschutzgrundverordnung, sog. No-Spy-Abkommen, Europ. IT-Strategie, Runder Tisch „Sicherheitstechnik“).
Stattdessen betont die Bundeskanzlerin, sie „habe keinen Anlass, an den bisherigen Erklärungen insbesondere des US-Geheimdienstes zu zweifeln“. Sie zieht sich darauf zurück, „auf deutschem Boden müsse deutsches Recht eingehalten werden“ und verweigert damit ausdrücklich den nach der Verfassung weitergehend angelegten Grundrechtsschutz und die daraus für die Bundesregierung erwachsenden grundrechtlichen Schutzpflichten.
Zu 4.
Artikel 17 des UN-Zivilpaktes gewährleistet den Schutz des Privat– und Familienlebens, der Wohnung, des Schriftverkehrs sowie der Ehre und des Rufs. Hinsichtlich des Schutzes des Privat– und Familienlebens, der Wohnung und des Postgeheimnisses entspricht der Schutz des Artikel 17 des UN-Zivilpaktes dem des Artikels 8 EMRK. Die Vorschrift umfasst – insoweit völlig unstreitig und in den sog. General Comments des UN-Menschenrechtsausschusses (General Comment 16/ 32 zu Artikel 17 IPBPR, angenommen am 23.3.1988) ebenfalls festgehalten – auch die informationstechnische Verarbeitung von Daten.
Zu 5.
Die freiheitliche Kommunikation demokratischer Staaten ist mit den durch PRISM und TEMPORA angelegten flächendeckenden Überwachungen völlig unvereinbar. Schon die davon ausgehende mögliche Wirkung eines diffus bedrohlichen Gefühls des Beobachtetseins kann die unbefangene Wahrnehmung der Grundrechte in vielen Bereichen beeinträchtigen und damit die zentrale Grundlage und Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit freiheitlicher Gemeinwesen und der für die Demokratie zentralen Institutionen beeinträchtigen.
Zu II.:
Die Forderungen unter II. ergeben sich zwangsläufig aus der verfassungsrechtlichen Pflicht der Bundesregierung, insbesondere die Grundrechte aller in Deutschland lebenden Menschen zu schützen. Hinsichtlich des im vierten Punkt (unter II.) genannten Verfahrens nach Art. 41 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte ist darauf hinzuweisen, dass sich die USA diesem Verfahren ausdrücklich unterworfen haben. Deutschland hat daher die Möglichkeit in diesem formalisierten Verfahren vor dem Menschenrechtsausschuss mit den USA über die Verletzung des Art. 17 des Internationalen Paktes zu diskutieren.
Zu III.:
Die Forderung, Edward Snowden die sichere Aufnahme in Deutschland anzubieten, ist nicht nur ein Gebot der Humanität; vielmehr ist sie auch dem deutschen Interesse an weiterer Aufklärung geschuldet. Das rechtliche Instrumentarium dazu bietet § 22 des Aufenthaltsgesetzes. Danach kann für die Aufnahme eines Menschen aus dem Ausland aus „völkerrechtlichen oder dringenden humanitären Gründen“ eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden oder das Bundesministerium des Innern kann „zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland“ die Aufnahme erklären.
Hier findet Ihr eine Übersicht unserer bisherigen Aktivitäten zu #PRISM #TEMPORA und Co..
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