In unregelmäßigen Abständen berichten wir auf gruen_digital über Initiativen, Veranstaltungen und Debatten aus dem Bereich Innen- und Netzpolitik in den Bundesländern. Immer wieder berichten wir in dieser Rubrik in den letzten Monaten über ganz verschiedene Aktivitäten in den einzelnen Ländern beim Thema E-Sport. An dieser Stelle freuen wir uns, dass Anja Stahmann, ihres Zeichens Senatorin für Soziales, Jugend, Frauen, Integration und Sport der Freien Hansestadt Bremen und zugleich Vorsitzende der Sportministerkonferenz in 2019 und 2020, uns in einem Gastbeitrag für gruen_digital ihre Sicht auf die Dinge schildert und die Herausforderung für die Konferenz, auch und gerade im Bereich des E-Sport, skizziert. 

Sport ist nicht einfach „schneller, höher weiter“. Sport ist Spiegel seiner Zeit, er ist Sozialpolitik mit anderen Mitteln. Nicht nur, aber auch. Sport spiegelt den Wandel in der Gesellschaft wider, er kann Klassengrenzen überschreiten, Milieus verbinden, er ist integrativ und vielfach auch sinngebend – für Ehrenamtliche in den Vereinen, für Fangruppen, für die Sportler selber. Die Vereine haben Geflüchtete als Mitglieder aufgenommen, das hat die Integration gefördert. Wir entwickeln Sportarten, in denen sich Behinderte und nicht Behinderte gemeinsam messen können. Und wir öffnen die digitale Welt für den sportlichen Wettbewerb, für Training, Strategien und Teamgeist.

Trotzdem wird die gesellschaftliche und politische Bedeutung des Sports in der Regel nicht gesehen, bestenfalls hingenommen, aber viel zu wenig reflektiert. Im Sport spiegelt sich eine Vielzahl von gesellschaftlichen Themen. Die Gender-Frage, die Frage von Homo- und Transsexualität, sexualisierte Gewalt, die gendergerechte Bezahlung, und eben die technische Entwicklung, der sportliche Wettbewerb am Bildschirm.

Es ist ganz stark auch der Blick der Sozial- und Frauenpolitikerin, der mich leitet, wenn ich auf den Sport blicke. Fast acht Jahre lang übe ich das Amt der Sozial- und Frauensenatorin in Bremen aus, fast vier Jahre bin ich zudem auch Sportsenatorin, und seit Januar Vorsitzende der Konferenz der Sportministerinnen und Sportminister. Ich will die Chance nutzen, die Sportministerkonferenz in meiner Amtszeit auch für sozialpolitische Themen zu sensibilisieren und das Thema E-Sport voranzubringen. Wir müssen bundesweit unsere Standards überdenken, brauchen einen reflektierteren Umgang mit dem gesellschaftlichen Wandel, der sich auch im Sport spiegelt.

Wir betrachten uns gern als hochtechnisiertes Land und machen den technischen Fortschritt zum Gradmesser für die gesellschaftliche Entwicklung. Dennoch wird unter den Bundesländern das Thema E-Sport sehr kontrovers diskutiert. Für die einen ist Sport das rein analoge Spiel gestählter Muskeln nach dem Vorbild der Olympioniken im alten Athen. Für die anderen hat die digitale Welt im Sport zumindest auch ihren Platz – und das nicht nur beim Video-Beweis auf dem Fußball-Rasen oder dem Auswerten der Leistungskurven von Spitzensportlern. Wer sich dem Wettbewerb stellt, wer Stadien füllt, wer an seiner Fitness arbeitet, damit er hellwach am Bildschirm volle Leistung bringt, hat unter Umständen kein Verständnis dafür, dass man ihm sagt: Das alles hat mit Sport nichts zu tun.

Die Anerkennung als Sport würde den Weg zu staatlichen Fördermitteln öffnen, zum Schulsport, zum universitären Studium, zu Leistungszentren, vielleicht sogar zu den Olympischen Spielen. Klingt merkwürdig? Heute noch. Die Anerkennung als Sport könnte auch soziale, die integrative Funktion vom Sport im Verein fördern, dazu beitragen, Barrieren zu überwinden, Milieus verbinden. Durchaus Chancen also. Auf der anderen Seite sind die wirtschaftlichen Interessen der Gaming-Industrie unverkennbar. Aber steckt keine Industrie hinter Sportschuhen, Trikots, Sportgeräten und Equipment?

Es ist Zeit, dass die Sportminister der Länder dazu eine gemeinsame Haltung entwickeln. Wir sollten uns nicht in eine Situation manövrieren, in der das eine Bundesland Sportfördermittel für die Anschaffung von Konsolen oder wissenschaftliche Begleitforschung bereitstellt, während im Nachbarland noch debattiert wird, ob die Beschränkung auf analoge Leibesübungen nicht die bessere Sportförderung sind. Die Positionen liegen weit auseinander, aber ich hoffe sehr, dass wir am Ende des zweijährigen Bremer Vorsitzes zu einer gemeinsamen Auffassung kommen werden.

Ich will die Kontroverse um den E-Sport nicht auf eine Ebene stellen mit meiner weiteren Agenda der Sportministerkonferenz. Aber gesellschaftlicher Wandel hat viele Facetten, auch in der analogen Welt, in den ganz persönlichen Lebensbereichen. Ich habe das angesprochen: Homosexualität, Transgender, sexueller Missbrauch.

Muss der schwule Fußballer seine Sexualität verheimlichen und sich über Jahre fragen lassen: Wieso bringst Du eigentlich nie Deine Freundin mit? Während die anderen sich öffentlich als werdende Väter feiern und mit ihren Model-Freundinnen auf Mallorca fotografieren lassen? Muss die Transgender-Frau im sportlichen Wettbewerb bei den Männern antreten, weil sie mal ein Mann war, auch wenn sie sich nie als solcher gefühlt hat? Und was ist mit dem sexuellen Missbrauch in Institutionen? Gibt es den nur in der katholischen Kirche, in Internaten und im Showgeschäft? Bilden sich nicht auch im Sport Abhängigkeitsstrukturen heraus, die den Missbrauch begünstigen?

Was die Gefahren des sexuellen Missbrauchs angeht, möchte ich erreichen, dass wir Standards in den Vereinen etablieren. Schulung, Sensibilisierung, feste Strukturen mit Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartnern, festgelegte Abläufe. Es darf nicht sein, dass ein Großteil der Vereine von sich sagt: Bei uns gibt es das Problem nicht. Rund ein Drittel aller Sportlerinnen und Sportler berichten von sexuellen Belästigungen oder Übergriffen. Sportlerinnen und Sportler gehen ständig über ihre Grenzen und werden dazu ermuntert. Gerade im Leistungssport droht die Gefahr, dass sie das Gefühl dafür verlieren, welche Grenzen sie selber setzen, welche Grenzen andere respektieren müssen. Das Thema gehört auf die Tagesordnung. Definitiv.

Ich bin schon zufrieden, wenn es uns gelingt, in diesen Themenbereichen ein Problembewusstsein in die Köpfe der Funktionäre und der Verantwortlichen in den Vereinen zu tragen. Ich bin überzeugt, dass die Debatte den Sport bereichern wird, wenn er sich ihr erst stellt. Ich will gar nicht darauf hinaus, dass sportliche Veranstaltungen den Charakter eines Christopher-Street-Day haben müssen. Aber ein bisschen mehr queer täte dem Sport sicher auch gut. Sport ist eben nicht nur „höher, schneller weiter“, Sport ist soziales Leben, im Sport spiegelt sich unsere Gesellschaft. In all ihrer Vielfalt. Analog und vielleicht sogar ein bisschen digital.

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