Zuerst das Positive: Durch den Protest gegen ACTA entsteht erstmals so etwas wie eine europäische Bürgerrechtsbewegung. Doch das Negative bleibt: Bei ACTA handelt es sich um ein multilaterales Abkommen, das internationale Standards für die Durchsetzung von geistigen Eigentumsrechten vorschlägt. ACTA ist ein Produkt der Hinterzimmer-Politik. Die Verhandlungen verliefen insgesamt undemokratisch und höchst intransparent. Parlamente wurden in den Entstehungsprozess nicht eingebunden. Nur durch anhaltenden internationalen Protest aus Wissenschaft, NGOs und von NetzaktivistInnen konnten die strittigsten Punkte aus früheren ACTA-Entwürfen gestrichen oder zumindest relativiert werden. Es bleiben aber massive politische und rechtliche Bedenken, Unklarheiten, Intransparenz und Bewertungsprobleme. Zudem wird durch ACTA eine überfällige Modernisierung des Urheberrechts behindert. Wir sehen uns deshalb hoffentlich am kommenden Samstag auf einer der europaweit zahlreich stattfindenden Aktionen gegen ACTA. Als grüne Bundestagsfraktion bearbeiten wir das Thema ACTA seit Anfang der Legislatur. Als grüne Bundestagsfraktion werden wir uns vor der Abstimmung zu ACTA im Deutschen Bundestag noch einmal gemeinsam ausführlicher positionieren.
I. Höchst Intransparenter, undemokratischer Verhandlungsprozess
Die USA, Kanada, Australien, Japan, Marokko, Neuseeland, Südkorea, Singapur sowie die Mehrzahl der 27 EU-Mitgliedsstaaten haben das hinter verschlossenen Türen, in geheimen Verhandlungen erarbeitete Abkommen gegen Produktpiraterie unterschrieben. Etablierte internationale Organisationen wie die WIPO (World Intellectual Property Organisation) und die WTO (World Trade Organisation) wurden an den Verhandlungen wie auch wichtige Schwellenländer nicht beteiligt. Dem Titel nach geht es bei ACTA (Anti-Counterfeiting Trade Agreement) um „Produktpiraterie und Markenpiraterie“. Im Zuge der Verhandlungen geriet aber auch der digitale Bereich besonders in den Fokus. Während internationale Rechteverwerter ihre Interessen massiv in den Verhandlungsprozess einbringen konnten, blieben die Nutzerinnen und Nutzer, zivilgesellschaftliche Akteure und Nicht-Regierungsorganisationen außen vor. Die Verhandlungen verliefen insgesamt undemokratisch und höchst intransparent. Die jeweiligen Textversionen wurden immer wieder als „Verschlussache- nur für den Dienstgebrauch“ gestempelt. Auf unsere parlamentarischen Anfragen mauerte die Bundesregierung unter Berufung auf die unter den Verhandlungspartnern vereinbarte Vertraulichkeit. Die Öffentlichkeit sollte außen vor gehalten werden und erfuhr erst durch das wiederholte Leaken von Dokumenten, dass drastische Rechtsverschärfungen drohten. Dem Deutschen Bundestag wurden die Entwurfstexte erst gar nicht und dann nur in englischer Sprache als vertrauliche Dokumente zugeleitet – in deutscher Sprache erst, nachdem die Verhandlungen bereits abgeschlossen waren. Das Europäische Parlament wurde ebenfalls nur unzureichend über die Verhandlungen in Kenntnis gesetzt. Die EU-Kommission informiert bis heute nur spärlich und nicht in allen Amtssprachen. Ein Gutachten des juristischen Dienstes des Europäischen Parlaments durfte nicht öffentlich diskutiert werden. So war eine effektive Prüfung und zeitige Einflussnahme durch die Parlamentarierinnen und Parlamentarier nicht möglich. Auch wurden die begleitenden Verhandlungsprotokolle, ohne die eine konkrete Einschätzung der verhandelten Interessen nicht möglich ist, ebenfalls bis heute nicht veröffentlicht. Trotz der späten und nur teilweisen Einbeziehung der nationalen Parlamente, hat bis heute ein Großteil der EU-Mitgliedsstaaten das Abkommen unterzeichnet. Das schwarz-gelbe Bundeskabinett hat das Abkommen am 30. November 2011 ebenfalls bereits durchgewunken. Die Abstimmung durch das Europäische Parlament und den Deutschen Bundestag steht nun bevor.
II. Proteste erreichten Entschärfung
ACTA war zwischenzeitlich ein Gruselkabinett der Kontroll- und Überwachungsinstrumente zur Durchsetzung von Urheber-, Marken und Patentrechten. Durch anhaltenden öffentlichen Protest von internationalen WissenschaftlerInnen, Nichtregierungsorganisationen und NetzaktivistInnen, zahlreichen Medienberichten und nicht zuletzt auch durch den Druck von uns Grünen wurde erreicht, dass die strittigsten Punkte aus früheren ACTA-Entwürfen gestrichen oder relativiert wurden:
- Netzsperren, etwa in Form einer verpflichtenden sogenannten „Three-Strikes-Regelung“ (d.h. eine Kappung von Internetanschlüssen nach wiederholten Urheberrechtsverstößen) wurden verworfen,
- eine weitreichende Haftung für Internetserviceprovider wurde auf allgemeine Grundsätze reduziert.
- Die Regelungen zur Offenlegung der Daten von InternetnutzerInnen sind für Vertragsstaaten nicht zwingend, allerdings optional.
- Vertragsstaaten müssen ihren Zollbehörden keine Befugnis zur Durchsuchung des persönlichen Gepäcks von Reisenden oder ihrer persönlichen elektronischen Geräte einräumen. Sie können nach nationalem Recht – müssen aber nicht – kleine Mengen von Waren ohne gewerblichen Charakter bei persönlichem Gepäck von Reisenden ausnehmen.
- Patentverletzungen sind aus dem Bereich von ACTA heraus genommen worden. Der Schutz von Markenrechten kann aber Auswirkungen auf die Versorgung von Entwicklungsländern mit Generika haben, wenn diese unter geschützten Marken vertrieben werden. Für Deutschland fordert ACTA keine Verschärfungen im Strafrecht – für andere Staaten jedoch möglicherweise schon.
III. Aber: Es bleiben massive politische und rechtliche Bedenken, Unklarheiten, Intransparenz und Bewertungsprobleme
Modernisierung des Urheberrechts wird durch ACTA möglicherweise behindert
Wir erkennen an, dass gerade im Bereich der Produktpiraterie, auch aus Sicherheitsgründen für die Verbraucherinnen und Verbraucher, eine effektive internationale Kontrolle und auch Verfolgung notwendig ist. Aber die Diskussion um die Modernisierung des Urheberrechts im digitalen Zeitalter ist derzeit noch in vollem Gange und wird auch von der Europäischen Kommission intensiv verfolgt. Unklar ist: Welche Möglichkeiten verbaut ACTA, das Strafrecht im Urheberrecht gegenüber privaten Internetnutzern zurechtzudrängen oder die Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums innovativ und ausgleichend zu organisieren? Diese Fragen wurden im ACTA-Prozess viel zu wenig beachtet. Wir befürchten, dass das reformbedürftige Urheberrecht zementiert werden kann. ACTA zeigt insgesamt eine Entwicklung bei der Rechtsdurchsetzung auf, die für uns Grüne unverhältnismäßig und potenziell grundrechtsgefährdend ist. In einer Zeit, da die Veränderungen und Potentiale der Digitalen Revolution nach einer progressiven und gestaltenden Politik verlangen, atmet ACTA zu sehr die Luft von Repression und nicht von neuen, alternativen Wegen. Einen Weg, der immer stärker auf Verfolgung setzt und die bestehende Urheberrechtspolitik der vergangenen Jahrzehnte gegen notwendige Veränderungen zu zementieren versucht, wollen wir nicht einschlagen. Wir Grüne streiten für eine andere Politik. ACTA steht in seinem Geist der Kontrolle und Verfolgung unseren Vorstellungen eines modernen Urheberrechts und dessen Durchsetzung diametral entgegen.
Geist des Abkommens orientiert auf Verschärfung von Durchsetzungsmechanismen zur Rettung alter Geschäftsmodelle
Auch wenn viele Regelungen nicht verpflichtend sind, wird die Art und Weise der Umsetzung in die nationalen Rechte und in praktische Maßnahmen geprägt sein von der Grundhaltung einer einseitigen Stärkung der Durchsetzung des Schutzes immaterieller Güter, die auch den Geheimverhandlungen zu ACTA zugrunde lag. Die alleinige Fokussierung auf rein repressive Modelle des Urheberrechtsschutzes, wie sie in einigen Vertragsstaaten bereits existieren oder angedacht werden, würde durch ACTA weiter präjudiziert werden. So wird durch die Aufnahme von „Kann-Bestimmungen“ tendenziell durchaus eine Erwartungshaltung an die Vertragsstaaten adressiert, bei ihren nationalen Umsetzungsregelungen und Maßnahmen letztlich doch zu Rechtsverschärfungen zu greifen. Das zeigen ausdrückliche Erwähnungen, etwa zur Weitergabe von Daten verdächtigter Nutzerinnen und Nutzer durch Provider an Rechteinhaber, auch ohne Richtervorbehalt, oder zur Förderung von Kooperationen der Wirtschaft zur Bekämpfung von Rechteverletzungen, was eine Unterstützung von privatrechtlich entwickelten Netzsperren bei Urheberrechtsverletzungen einschließen könnte. Darüber hinaus gibt es eine grundsätzliche Verpflichtung auf die Einführung von Regelungen gegen die Umgehung von technischen Schutzvorkehrungen (Digital Rights Management, DRM) und entsprechenden Programmen, wo es diese noch nicht gibt. Hiermit werden einseitig die Interessen von Rechteinhabern an der Steuerung des Zugangs zu Inhalten unterstützt, ohne verpflichtenden Blick auf Bagatellausnahmen, Verbraucherschutzinteressen oder das Allgemeinwohl, wie dies im EU-Recht und deutschen Urheberrecht – wenn auch nicht im ausreichenden Maße – vorgesehen ist. Statt alte Geschäftsmodelle repressiv abzusichern, sollte lieber nach neuen Lösungen gesucht werden. Wir wollen ein modernes Urheberrecht, das auf „Vergütung statt Verfolgung“ setzt. Wir Grüne streiten bei der Reform und Modernisierung des Urheberrechts für einen fairen Interessenausgleich zwischen UrheberInnen, VerwerterInnen sowie den Interessen der NutzerInnen und der Allgemeinheit. Wir wollen gemeinsam mit allen Beteiligten neue Wege erarbeiten, um unser Ziel „Vergütung statt Verfolgung“ zu erreichen. ACTA würden diesen Weg verstellen, es manifestiert einen antiquierten, überholten und am Ende auch erfolglosen Politikansatz und verweigert sich einer Debatte über die Zukunft des internationalen Urheberrechts.
Massive Grundrechtsbedenken nicht ausgeräumt – Folgenabschätzung fehlt
Weiterhin steht die Verletzung von Grundrechten der EU-Grundrechtecharta und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) durch das Abkommen im Raum. So könnte das Datenschutzgrundrecht durch mangelnde Standards verletzt sein. Das endgültige Abkommen verwendet teils sehr vage und abstrakte Formulierungen. Was damit wirklich gemeint und beabsichtigt ist, erschließt sich ohne die begleitenden Verhandlungsprotokolle nicht. Diese Protokolle sind aber bislang nicht zugänglich. Über Teilbereiche hinaus gibt es keine valide und vollständige Folgenabschätzung, die die Auswirkungen dieses Abkommens umfassend beleuchtet. Welche Auswirkungen haben die möglichen Kontrollen an der Grenze, auf die sich alle Mitgliedstaaten verpflichten? Wie werden Private auf Reisen tatsächlich betroffen – wie niedrigschwellig kann der Verdacht sein, um Smartphones, Laptops und andere Geräte auf möglicherweise illegal bezogene Musikdateien und Filme zu durchstöbern, zu beschlagnahmen oder Inhalte und Geräte zu beseitigen? Ist die anlasslose Durchsuchung von Laptops, Mobiltelefonen und MP3-Playern durch Grenz- und Zollbehörden ohne richterlichen Durchsuchungsbeschluss wirklich wirksam ausgeschlossen? Wie ist es, gerade auch in anderen Ländern, um Verfahren zur Feststellung einer Rechtsverletzung und effektiven Rechtsschutz bestellt? Wichtig ist die Frage zu klären, ob durch die ACTA-Regelungen die Versorgung von Entwicklungs- und Schwellenländern mit wichtigen Medikamenten unverhältnismäßig eingeschränkt wird.
Wir sagen Nein zu ACTA
Sowohl der gezielt intransparente Verhandlungsprozess als auch der hinter verschlossenen Türen ausgehandelte Inhalt des Abkommens hat das Vertrauen in die Ausgewogenheit und Allgemeinwohlorientierung des Ergebnisses unmöglich gemacht. Angesichts massiver politischer und rechtlicher Bedenken, zahlreichen Unklarheiten sowie großen Informationsdefiziten ist das ACTA-Abkommen für uns nicht zustimmungsfähig. Wir werden das Abkommen, das ohne eine umfassende Folgenabschätzung, ohne eine Überprüfung durch den Europäischen Gerichtshof und einen breiten Beteiligungsprozess im Ratifizierungsverfahren auf den Weg gebracht werden soll, ablehnen. Bei internationalen Verhandlungen – sei es zu Handelsabkommen, Abkommen über das Strafrecht, die Internationale Zusammenarbeit oder anderen wichtigen Bereichen – darf die demokratisch nötige Transparenz nicht durch pauschale Vertraulichkeitsvereinbarungen untergraben werden – Parlament und Öffentlichkeit müssen umfassende Informationsrechte erhalten. Die Beschränkung auf Ja/Nein-Entscheidungen im späteren Ratifizierungsprozess mit seinen politischen Zwängen entspricht nicht modernen Ansprüchen an demokratische Legitimation.
IV. Unsere Forderungen:
- Die progressive Fortentwicklung des Urheberrechts muss endlich angegangen werden und darf durch ACTA nicht ausgeschlossen werden – keine völkerrechtliche Zementierung des Zivil- und Strafrechts, die urheberrechtlichen Reformen entgegenstehen könnte, insb. im nichtkommerziellen Bereich
- Sofortige vollumfängliche Veröffentlichung der Verhandlungsprotokolle
- Umfassende Folgenabschätzung unter Einbeziehung der Interessen der Zivilgesellschaft vorlegen (EU-Kommission, Bundesregierung)
- Überprüfung der Grundrechtsaspekte des Abkommens durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH)
- Weitere Demokratisierung internationaler Verhandlungen
Hintergrundinfos:
- Jan Philipp im Interview – “Zoff um ACTA”, 06. Februar 2012
- Beschluss des Bundesvorstandes der Grünen ACTA zu Fall bringen!, 06. Januar 2012
- Wann wird ACTA durch die Bundesrepublik Deutschland ratifiziert?, 30. Januar 2012
- Grüne legen weiteren Antrag zu ACTA und Medikamentenzugang vor, 25. Jan 2012
- Grüne beteiligen sich am intern. Protesttag gegen SOPA, PIPA & ACTA, 18. Jan 2012
- EU-Regierungen winken ACTA-Abkommen durch, 16. Dez. 2011
- Bundestag beschäftigt sich mit ACTA – leider nicht-öffentlich , 2. Dez. 2011
- Ratifizierung von ACTA rückt näher!, 11. Nov. 2011
- Video zum #ActaLunch in der Heinrich-Böll-Stiftung, 28.10.2011 2. Nov. 2011
- Ska Keller, Jan Philipp Albrecht & Konstantin Notz laden zum ACTA-Lunch 21. Okt. 2011
- Neue Studie zeigt: ACTA-Abkommen verstößt gegen Grundrechte 17. Okt. 2011
- Kl. Anfrage „Stand und Inhalt der Verhandlungen zum Anti-Counterfeiting Trade Agreement (ACTA) u. Gewährleistung von Transparenz durch die Bundesregierung“, 08. April 2010
Studien:
- Gemeinsame Erklärung Europäischer Rechtswissenschaftler gegen ACTA
- Studien der Grünen Fraktion im Europäischen Parlament
1) zur Vereinbarkeit von ACTA mit der EU-Grundrechtecharta und
2) den Auswirkungen auf die Versorgung von Entwicklungsländern mit Medikamenten
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