Als netz- und innenpolitischer Sprecher habe ich in einem Gastkommentar für die Financial Times Deutschland noch einmal die Position meiner Fraktion bezüglich der anlasslosen Vorratsdatenspeicherung dargelegt: Als grüne Bundestragsfraktion halten wir eine pauschale Vorratsdatenspeicherung keineswegs für unverzichtbar. Im Gegenteil: Die anlasslose verpflichtende Massenspeicherung von Verkehrsdaten der Telekommunikation aller Bürgerinnen und Bürger stellt eine Abkehr vom zentralen Datenschutzgrundsatz der Zweckbindung dar. Ermittler haben heute mehr technische Möglichkeiten zur Informationsbeschaffung als je zuvor. Den Originalkommentar findet Ihr in Kürze auch auf den Seiten der Financial Times Deutschland.

 

Vorratsdaten schaden dem Rechtsstaat

Die pauschale Speicherung von Verbindungsprotokolen ist für Ermittler keineswegs unverzichtbar. Sie verletzt Grundrechte und sollte deshalb abgeschafft werden.

Ausgerechnet eine interne Studie des Bundeskriminalamts bestätigt nun, dass es keinen Bedarf an der langfristigen Vorratsdatenspeicherung gibt, insbesondere von Telefonverkehrsdaten. Bereits kurz zuvor hat das Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in einem Gutachten die Behauptung widerlegt, dass eine erhebliche Schutzlücke bei der Verfolgung von Straftaten entstanden sei, seitdem das Bundesverfassungsgericht die Vorratsdatenspeicherungspflicht kippte. Und schließlich wird bald der Europäische Gerichtshof entscheiden, ob die Vorratsdatenspeicherungsrichtlinie überhaupt mit europäischen Grundrechten vereinbar ist. Der konservativen Sicherheitskampagne zur Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung geht die Luft aus, und das völlig zu Recht.

Vertrauensverlust in Kommunikationstechnik
Anlasslose verpflichtende Massenspeicherungen von Verkehrsdaten der Telekommunikation stellen nicht nur die Abkehr vom zentralen Datenschutzgrundsatz der Zweckbindung dar. Mit der staatlich angeordneten monatelangen Dauerspeicherung droht, wie das Bundesverfassungsgericht zutreffend festgehalten hat, das Vertrauen in die unbefangene Nutzbarkeit der Kommunikationsinfrastruktur insgesamt verloren zu gehen. Eine derartige Umwidmung zur Straftatbekämpfung berührt nicht nur die Grundrechte aller Bundesbürger, sondern die Demokratie insgesamt.

Ermittlungsansätze ausreichend
Ohne Vorratsdaten würden die Ermittler in der digitalen Welt künstlich blind und taub gehalten, sagen ihre Befürworter. Tatsächlich haben Polizei und Dienste heute Überwachungsmöglichkeiten, von denen man früher kaum zu träumen gewagt hätte. Im Falle der rechtsextremistischen Zwickauer Zelle führte das zu mehreren Terrabyte Daten an Ermittlungsansätzen. Das Zusammenführen der gewaltigen oft automatisch generierten Datenmengen ermöglicht eine vollständige Offenlegung von Kommunikation und Verhalten.

Was hätte das Smartphone von Andreas Baader wohl alles preisgegeben, was der Laptop von Lee Harvey Oswald? Jüngste Beispiele belegen, vor welchen gewaltigen Herausforderungen inzwischen unser Rechtsstaat steht: Erinnert sei an den Dresdner Funkzellenskandal – als die Polizei hunderttausende Handydaten nach einer Anti-Nazi-Demo auswertete -, die fragwürdigen Trojaner-Einsätze (Software zum Ausspähen von Computern) oder auch die ausufernde Einsatz von „stillen SMS“ zur heimlichen Handyortung.

Widersprüchliche EU-Politik
Die Befürworter der Vorratsdatenspeicherung verweisen gern auf die Vorgaben einer EU-Richtlinie. Das ist deshalb wenig überzeugend, weil die EU-Kommission mittlerweile selbst an ihrer Richtlinie zweifelt. Im Sommer will sie einen Neuentwurf vorlegen. Nicht nur hat sich mit dem Lissaboner EU-Vertrag und der Grundrechtecharta der rechtliche Rahmen grundlegend verändert. Auch die vorgeschriebene Evaluation ergab: Es fehlen bis heute belastbare Zahlen aus den Mitgliedstaaten, die den schwerwiegenden Eingriff in die Grundrechte rechtfertigen können.

Beim Datenschutz wird weiter in Europa eine zutiefst inkohärente, in sich widersprüchliche Politik verfolgt: Einerseits werden mit bei Vorratsdaten, aber auch bei Fluggastdaten und Finanztransaktionsdaten bürgerrechtlich höchst fragwürdige Massenspeicherungsprojekte vorangetrieben. Andererseits will sich die Kommission in einer ambitionierten Reform als oberste Hüterin des Datenschutzes etablieren. Die dabei auch von ihr anerkannten Grundsätze des Datenschutzes gehen mit den gleichzeitig von ihr betriebenen Überwachungsvorhaben einfach nicht zusammen.

Drohender Dammbruch
Einmal eingeführt, wird die Frage, welche Daten wie lange und für wen zugänglich gespeichert werden nur noch eine beliebig veränderbare Stellschraube, je nach gefühlter Sicherheitslage. Das bestätigen nicht nur die Erfahrungen mit anderen Überwachungstechniken wie etwa der öffentlichen Videoüberwachung, bei der die Speicherzeiten regelmäßig erhöht werden. Dazu reicht oft eine einzige, besonders grausame Straftat. Nach der Aufdeckung der Zwickauer Zelle etwa wurde reflexhaft und allen Ernstes über die Vorzüge einer zehnjährigen Speicherdauer phantasiert.

Rechtsstaat bedroht
Ein freiheitlicher Rechtsstaat kann sich selbst abbauen – dazu reichen wenige schwere Krisen. Wir erleben derzeit massive Umbrüche durch die Digitalisierung. Sie erzeugen starke Verunsicherungen bei Unternehmen wie bei den Sicherheitsbehörden. Bei den einen sollen alte Geschäftsmodelle durch mehr Überwachung wieder wirtschaftlich werden, bei den anderen gilt es zu legitimieren, was faktisch möglich ist. Auch gefährliche postdemokratische Tendenzen sind in einem erhitzten globalen Wettbewerb unübersehbar: Immer offener wird über den ökonomischen Erfolg eines vermeintlich überlegenen „Chinesischen Modells“ räsoniert. Die Empörung über das Unterdrückungssystem tritt in den Hintergrund.

Unsere Verantwortung liegt darin, den demokratischen Rechtsstaat bei allem Wandel zu bewahren. Die Vorratsdatenspeicherung sollte abdanken. Sie verstellt den Blick auf weitere Auswüchse einer – nicht nur staatlicherseits betriebenen – Überwachungsmaschinerie. Sie reicht vom internationalen Urheberrechtsabkommen Acta bis zum EU-Videoüberwachungsprojekt INDECT, von der Verhaltensprofilbildung bis hin zur vollautomatisierten Verbraucherbewertung – und gefährdet die freiheitlichen Grundlagen unseres Zusammenlebens.

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