Beinahe ein Jahr ist es her, dass Anis Amri einen LKW gezielt in eine Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz steuerte, 12 Menschen tötete und Dutzende weitere zum Teil schwer verletzte. Dieser bisher schlimmste islamistische Anschlag in der Geschichte der Bundesrepublik hat zutiefst erschüttert. Umso unerträglicher ist es, dass das systematische Versagen der Sicherheitsbehörden in Bund und Ländern bis heute nicht aufgearbeitet wurde und zahlreiche offene Fragen weiterhin unbeantwortet sind.
Dies betrifft insbesondere die Frage, warum eine bekanntermaßen hochgradig gefährliche Person wie Anis Amri, monatelang wie unter einer Käseglocke durch Deutschland reisen konnte und trotz vorhandener Rechtsgrundlagen nicht in Haft genommen und damit von seiner Tat abgehalten wurde. Aber auch andere zentrale Fragen sind weiterhin offen: Wurde die „Vertrauensperson -01“ nach dem Anschlag von Landes- und/oder Bundesbehörden vernommen? Wurde Lutz Bachmann zu seinem mysteriösen Tweet am Abend des 19.12.2016 jemals vernommen? Wie konnte ein mutmaßlicher Komplize von Amri keine vier Wochen nach dem Anschlag abgeschoben werden? Wurde Anis Amri möglicherweise bewusst nicht festgesetzt und wenn ja, warum und auf wessen Geheiß? Und spielten ausländische Nachrichtendienste bei alledem eine Rolle und wenn ja, welche?
Statt diese Fragen zu klären und eine zielführende Analyse der bundesrepublikanischen Sicherheitspolitik und ihrer offen zu Tage getretenen Defizite vorzunehmen, wurden Verschärfungen der Migrationspolitik und Erweiterungen der Befugnisse der Sicherheitsbehörden zur Ersatzhandlung einer großen Koalition, die lieber Symboldebatten führte, statt strukturelle Probleme schnellstmöglich abzustellen und so die Sicherheit langfristig effektiv zu erhöhen.
Der von der Großen Koalition gewählte Weg der bewussten Nicht-Aufklärung der Rolle der Sicherheitsbehörden des Bundes im Fall Amri ist Ausdruck einer Mentalität, welche sich der Verantwortung nicht stellen will und sich einer gelebten Fehlerkultur verweigert. In genau diesem Geist konnten sich die Fraktionen von CDU/CSU und SPD im Frühling nicht dazu durchringen, den Antrag der Grünen Bundestagsfraktion auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zur Causa Amri (pdf) anzunehmen.
Dass nunmehr, sechs Monate später auch Volker Kauder die Notwendigkeit eines Untersuchungsausschusses auf Bundesebene sieht, ist eine begrüßenswerte, wenn auch sehr späte Kehrtwende. Seitdem haben wir wertvolle Zeit verloren. Zeit, offen zu Tage getretene Defizite, beispielsweise bei der zielgerichteten Überwachung von Top-Gefährdern, abzustellen, den notwendigen Austausch und Informationsfluss zwischen den Behörden zu verbessern, eine bislang mangelnde Rechtssicherheit der Arbeit, zum Beispiel in Gemeinsamen Terrorabwehrzentren herzustellen und die Zusammenarbeit im föderalen Gefüge sowie innerhalb der EU insgesamt zu verbessern.
Es ist gut, dass sich die Parlamente in Nordrhein-Westfalen und Berlin ihrer Verantwortung bereits gestellt haben und die Rolle ihrer Behörden im Fall Amri aufklären. Im Zuge der Aufklärung der Hintergründe des Anschlags setzt sich jedoch die zersplitterte Zuständigkeitslogik fort, welche sich als ein Grundproblem in der Gefahrenabwehr im Vorfeld des Anschlags erwies. Für Amri, Abu Walaa und Co. ist die Fragmentierung der Sicherheitsarchitektur, das wissen wir heute, mittlerweile sogar ein zentraler strategischer Baustein.
Sie wissen, dass Gefährder bis heute nicht schnittstellenübergreifend überwacht werden. Sie wissen, dass potentielle Attentäter eine gute Chance haben, vor Maßnahmen der Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden geschützt zu werden. Sie wissen, dass 16 Landeskriminal- und 16 Landesverfassungsschutzämter sowie die entsprechenden Behörden auf Bundesebene im lockerenTischkreis des Gemeinsamen Terrorabwehrzentrums (GTAZ) Verantwortung wie eine heiße Kartoffel herumreichen. Sie wissen, dass der Quellenschutz für manche Behörde über allem steht und notwendige Informationen nicht weitergereicht werden. Und sie wissen, dass die Bundesbehörden, denen eigentlich eine koordinierende Funktion zukommt, diese Verantwortung nur allzu gerne von sich weisen.
Die Zuständigkeitsverschiebungen zwischen NRW, Berlin und dem Bund dürfen aber nicht dazu führen, dass wir fast ein Jahr nach dem Anschlag immer noch häppchenweise neue Informationen vornehmlich aus der Presse erfahren. Doch weder der Generalbundesanwalt, noch das BKA, geschweige denn die nunmehr kommissarische Bundesregierung scheint vom Ehrgeiz getrieben, den Ursachen des sicherheitsbehördlichen Versagens auf den Grund zu gehen, welche zu dem Anschlag führten.
Wir sind der Überzeugung, dass wir endlich mit dem Prinzip der symbolpolitischen Ersatzhandlungen brechen und parlamentarisch initiiert eine neue Fehler- und Verantwortungskultur leben müssen. Nur so kann der Verunsicherung in der Bevölkerung begegnet werden, die durch den mangelnden Aufklärungswillen der Großen Koalition entstanden ist. Aus diesem Grund schlagen wir vor, auf Grundlage unseres bereits vorliegenden Entwurfs schnellstmöglich und über Fraktionsgrenzen hinweg einen Untersuchungsausschuss einzusetzen. Einen Untersuchungsausschuss, der sich kritisch mit der Rolle aller Sicherheitsbehörden des Bundes in diesem Fall auseinander setzt und dessen oberste Priorität das zügige Abstellen längst bekannter Sicherheitsdefizite sowie die Verbesserung der Zusammenarbeit unserer Sicherheitsbehörden im Föderalstaat auf klaren rechtsstaatlichen Grundlagen ist.
Alle demokratischen Parteien müssen nun an einem Strang ziehen. Statt parteipolitischen Gezänks und Schuldzuweisungen müssen sie gemeinsam Verantwortung übernehmen und Fehler und Missstände herausarbeiten, damit ein solch schrecklicher Anschlag in Zukunft verhindern werden kann. Dies gebietet auch der Respekt vor den Opfern und ihren Hinterbliebenen.
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