Am 27. Oktober 2010 wird der Unterausschuss Neue Medien des Bundestages nach einem halben Jahr des Absetzens und Verschiebens den grünen Antrag „Keine Vorratsdatenspeicherungen über den Umweg Europa“ in einer nichtöffentlicher Sitzung abstimmen.
Die Vorgeschichte:
Der Bundestag hatte bereits im Jahr 2004 (vgl. hier, Punkt Acht) deutlich seine Ablehnung der Vorratsdatenspeicherung erklärt. Dennoch hat die Bundesregierung aus CDU, CSU und SPD im März 2006 die europäische Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung mitgetragen und im November 2007 das entsprechende Umsetzungsgesetz mit der Mehrheit der großen Koalition im Bundestag verabschiedet.
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts:
Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 2. März 2010 festgehalten:
„Dass die Freiheitswahrnehmung der Bürger nicht total erfasst und registriert werden darf, gehört zur verfassungsrechtlichen Identität der Bundesrepublik Deutschland für deren Wahrung sich die Bundesrepublik in europäischen und internationalen Zusammenhängen einsetzen muss. Durch eine vorsorgliche Speicherung der Telekommunikationsverkehrsdaten wird der Spielraum für weitere anlasslose Datensammlungen auch über den Weg der Europäischen Union erheblich geringer.“ […] Die Speicherung sei geeignet, „ein diffus bedrohliches Gefühl des Beobachtetseins hervorzurufen“, und könne „eine unbefangene Wahrnehmung der Grundrechte in vielen Bereichen beeinträchtigen“.
Das Verfassungsgericht hat damit aufgezeigt, dass auch auf europäischer Ebene nicht weiter eine Strategie verfolgt werden darf, die schrittweise „auf möglichst flächendeckende vorsorgliche Speicherung aller für die Strafverfolgung oder Gefahrprävention nützlichen Daten“ zielt.
Die europäische Diskussion:
Trotz dieser Einschätzung des höchsten deutschen Gerichts droht die Europäische Union genau diesen Weg nun zu beschreiten. Sie tut dies, obwohl es bisher keine gerichtliche Überprüfung der Vorratsdatenspeicherungs-Richtlinie am Maßstab der Grundrechte des Unionsrechts gab. Der Europäische Gerichtshof hat lediglich die Wahl der Rechtsgrundlage überprüft (vgl. EuGH, Rs. C-301/06). Verfassungsgerichte in Rumänien und Bulgarien haben ebenfalls Umsetzungsgesetze der Richtlinie für verfassungswidrig erklärt. Zahlreiche europäische Regierungen wie die Irlands, Österreichs, Belgiens, Schwedens, Luxemburgs und Griechenlands sehen die Richtlinie kritisch und weigern sich, sie umzusetzen. Auch mit Hinweis hierauf haben sich Ende Juni 2010 über 100 Organisationen aus 23 europäischen Ländern für einen Stopp der europaweiten Verpflichtung zur Vorratsdatenspeicherung ausgesprochen. Wir Grünen unterstützen die Forderungen dieses breiten zivilgesellschaftlichen Bündnisses ausdrücklich.
Die deutsche Diskussion:
Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger und Bundesinnenminister de Maizière streiten sich derzeit über das weitere Verfahren nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Während Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger mit Hinweis auf die anhaltende Evaluierung auf europäischer Ebene keine Notwendigkeit für eine Neuauflage einer Vorratsdatenspeicherung auf deutscher Ebene sieht, fährt Innenminister de Maizière im Zusammenspiel mit BKA-Präsident Ziercke eine massive Kampagne und warnt vor eklatanten „Sicherheitslücken“, die es ohne eine Vorratsdatenspeicherung gäbe.
Unser Antrag:
Wir Grünen sind nach wie vor der Meinung: Die anlasslose, massenhafte Speicherung individueller Daten ist ein tiefer Eingriff in die Privatsphäre aller Bürgerinnen und Bürger. Vorratsdatenspeicherungen stellen Bürgerinnen und Bürger unter einen unzulässigen Generalverdacht. Zudem birgt jede Vorratsdatenspeicherung große Risiken des Datenmissbrauchs.
Daher haben wir die Bundesregierung in unserem Antrag „Keine Vorratsdatenspeicherungen über den Umweg Europa“, den wir unmittelbar nach dem Richterspruch aus Karlsruhe mit Hinweis auf Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes gestellt haben, aufgefordert, auf europäischer Ebene sämtlichen Vorhaben, die Vorratsdatenspeicherung vorsehen, energisch entgegen zu treten. Des Weiteren fordern wir die Bundesregierung dazu auf, sich auf europäischer Ebene für eine vollständige Aufhebung der die Vorratsdatenspeicherung im Telekommunikationsbereich betreffenden Richtlinie einzusetzen.
Neben unserem Antrag warnen wir die Bundesregierung – auch mit Hinweis auf die derzeitige Evaluierung auf europäischer Ebene – weiterhin vor gesetzgeberischen Schnellschüssen. Statt diesen Weg zu gehen wäre es unserer Meinung nach angebracht, sich grundlegende Gedanken darüber zu machen, wie eine möglichst effektive Strafverfolgung mit den hohen verfassungsrechtlichen Vorgaben des BVerfGs unter einen Hut zu bringen ist. Hierzu rät im Übrigen auch der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar.
Das Vorgehen im Unterausschuss Neue Medien:
Wir haben unseren Antrag am 24.03.2010 in den Bundestag eingebracht. Am 26.03.2010 hielt ich die Rede zur ersten Lesung im Deutschen Bundestag. Seitdem vermeidet es die Koalition mit Hinweis darauf, dass man sich noch nicht auf eine gemeinsame Position in Sachen Vorratsdatenspeicherung geeinigt habe, unseren Antrag in den Ausschüssen des Bundestages zu diskutieren. Ganz ähnlich agierte sie bereits bezüglich der Anträge zum Thema Netzsperren (vgl. hier).
Nun, nachdem die Koalition aufgrund bundestagsinterner Fristen, in denen parlamentarische Initiativen behandelt werden müssen, nicht länger umhin kommt, den Antrag auf die Tagesordnung des Unterausschusses zu setzen, wird unser Antrag in einer frühmorgendlichen Sondersitzung am Mittwoch, dem 27. Oktober 2010, 8.35 bis 8.55 Uhr beraten. Anstelle eines Austauschs mit allen Beteiligten über den derzeitigen Stand der Evaluierung auf europäischer Ebene findet diese wichtige Abstimmung in einer nichtöffentlichen Sitzung statt, damit der bestehende Dissens zwischen Union und FDP unsichtbar bleibt.
Durch ihr Vorgehen vergibt die Koalition die Chance, sich noch einmal mit allen Beteiligten über die tatsächliche Notwendigkeit einer Vorratsdatenspeicherung und über den derzeitigen Stand der Evaluierung auf europäischer Ebene auszutauschen. Das ist schade.
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