Chelsea Manning, Edward Snowden und Markus Beckedahl, sie alle haben auf Fehlentwicklungen in westlichen Demokratien aufmerksam gemacht. Sie alle haben wahrheitsgetreu berichtet „was ist“ – und wurden zu Staatsfeinden und Landesverrätern erklärt. Manning, die ein Video mit Kriegsverbrechen gegen Zivilisten im Irak-Krieg weitergab, wird absehbar noch Jahre in US-Gefängnissen sitzen. Snowden, der der Welt ein weltweites, geheimdienstliches Überwachungssystem mit totalitärem Anspruch offenbarte, wurde zum „Staatsfeind Nummer eins“ erklärt. Und Beckedahl und Meister, die über die Pläne des deutschen Inlands-Geheimdienstes berichteten, ohne jedwede Rechtsgrundlage Kommunikation in sozialen Netzwerken in Echtzeit zu überwachen, wurden über Nacht von Grimme-Preis-Trägern zu Landesverrätern. Vor Kurzem habe ich einen knappen Gastbeitrag für das Handelsblatt zu Whistleblowern, Leaks, Staatsgeheimnissen und den Krieg um die Macht über Informationen verfasst, der nur in der Printausgabe erschienen ist.
MONTAG, 17. AUGUST 2015, NR. 156
Rechtsstaat in Gefahr
Manning, Snowden und Beckedahl, sie alle haben auf Fehlentwicklungen in westlichen Demokratien aufmerksam gemacht. Sie alle haben wahrheitsgetreu berichtet, „was ist“ – und wurden zu Staatsfeinden und Landesverrätern erklärt.
Seit dem „Landesverrat“-Skandal ist die Frage erneut in den öffentlichen Fokus gerückt, was in demokratischen Rechtsstaaten vollständig „geheim“ sein darf und worüber man diskutieren können muss. Dies ist auch das Verdienst einer Bundesregierung, die durch ihr höchst dilettantisches Agieren dafür gesorgt hat, dass dieser Angriff auf die Pressefreiheit sich zu einem gigantischen Eigentor entwickelt hat.
Die Härte der Auseinandersetzung ist nur dadurch zu erklären, dass es im Kern um Macht geht. Darum, welche Diskussionen öffentlich geführt werden dürfen. Hier gibt es diametral entgegenstehende Interessen: Der Verfassungsschutz wollte unbedingt verhindern, dass die Öffentlichkeit erfährt, dass man ein Jahr nach den Snowden-Enthüllungen dem Vorbild NSA folgt und die Internetüberwachung in Deutschland massiv ausbaut. Die Journalisten fanden es zwingend, dass die Öffentlichkeit hiervon erfährt.
Das Phänomen zunehmender Leaks ist nicht zuletzt eine Folge der Praxis, selbst verfassungsrechtlich höchst relevante Vorgänge der Öffentlichkeit, ja sogar den – zur Geheimhaltung verpflichteten – parlamentarischen Kontrollgremien vorzuenthalten. Das ist allerdings in einer Zeit unzulässig, in der Freiheitsrechte selbst in Demokratien westlichen Typs durch zweierlei Entwicklung erheblich bedroht sind.
„Ein offener Diskurs über die Folgen totaler Überwachung ist nötig.“
Die erste Entwicklung ist ein rasanter technischer Fortschritt, der neben allen Chancen und Lebensverbesserungen auch eine „totale Überwachung“ möglich macht. Die andere ist eine Exekutive, die beim Thema Überwachung Bürgerrechte schlicht als Störfaktor für immer neue gesetzliche Befugnisse der Sicherheitsbehörden zur Datensammlung und -verarbeitung empfindet.
Wenn über diese Entwicklungen kein offener Diskurs in Deutschland und Amerika geführt werden kann, weil die Maßnahmen der Exekutive gänzlich „geheim“ sind, drohen rechtsstaatlich verheerende Entwicklungen. Sicher muss es auch in Demokratien Dinge geben, die geheim sind. Für wie lange so etwas gelten darf, ist jedoch eine ganz andere Frage. Spätestens nach 25 Jahren müssen alle relevanten Vorgänge (unter Wahrung von Persönlichkeitsrechten der Beteiligten) öffentlich gemacht werden. Jeder Mensch hat den legitimen Anspruch, verstehen zu können, in welchen Bezügen er lebt und wer was zu verantworten hat.
Auch die Frage, wer verfügt, welche Vorgänge „geheim“ sind, ist entscheidend. Kann es legitim sein, dass die Regierung oder der einzelne Beamte de facto allein darüber entscheidet, was die Öffentlichkeit und diejenigen, von denen sie eigentlich kontrolliert werden sollen, wissen dürfen? Seit Edward Snowden und der seit nunmehr zwei Jahren andauernden Arbeit des Untersuchungsausschuss zur Überwachungs- und Geheimdienstaffäre wissen wir, wie groß die Gefahr ist, dass sich „im Geheimen“ ein System fern aller Rechtsstaatlichkeit etabliert. Das darf nicht sein!
Der Autor ist Vizevorsitzender der Grünen-Bundestagsfraktion.
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